Rezeption als Naturwissenschaftler
Goethes naturwissenschaftliche Arbeit wurde von den zeitgenössischen Fachkollegen
anerkannt und ernst genommen; er stand in Kontakt mit angesehenen Forschern wie
Alexander von Humboldt
, mit dem er in den 1790er Jahren anatomische und galvanische
Experimente unternahm,
[369]
dem Chemiker
Johann Wolfgang Döbereiner
und dem Arzt
Christoph Wilhelm Hufeland
, der von 1783 bis 1793 sein
Hausarzt
war.
[370]
In der
Fachliteratur wurden seine Schriften, allen voran die Farbenlehre, von Beginn an kontrovers
diskutiert; mit der Fortentwicklung der Naturwissenschaften wurden Goethes Theorien in
weiten Teilen als überholt betrachtet. Eine vorübergehende Renaissance erfuhr er ab 1859,
dem Erscheinungsjahr von
Charles Darwins
Werk
Über die Entstehung der Arten
. Goethes
Annahme eines ständigen Wandels der belebten Welt und der Zurückführbarkeit der
organischen Formen auf eine gemeinsame Urform führte nun dazu, dass er als ein Vordenker
der
Evolutionstheorien
galt.
[371]
Nach
Carl Friedrich von Weizsäcker
ist es Goethe nicht gelungen „die Naturwissenschaft zu
einem besseren Verständnis ihres eigenen Wesens zu bekehren […]. Wir heutigen Physiker
sind […] Schüler Newtons und nicht Goethes. Aber wir wissen, daß diese Wissenschaft nicht
absolute Wahrheit, sondern ein bestimmtes methodisches Verfahren ist.“
[372]
Die Klassikstiftung Weimar veranstaltete vom 28. August 2019 bis zum 16. Februar 2020 die
Sonderausstellung Abenteuer der Vernunft: Goethe und die Naturwissenschaften um 1800, zu
der ein Katalogband erschien.
[373]
Exemplarische Monographien und Biographien
Über Goethes Leben und Werk sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Die ihm
gewidmeten Lexika und Kompendien, Jahrbücher und Leitfäden sind kaum noch zu zählen.
Nachfolgend werden einige exemplarische Werke vorgestellt, die das Phänomen Goethe in
einer Gesamtschau analysieren und interpretieren.
Zu den frühen Werken dieser Art zählen:
Herman Grimm
: Goethe. Vorlesungen, gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin. (2 Bände. 1.
Auflage. W. Hertz, Berlin 1877; 10. Auflage. Cotta, Stuttgart 1915).
Grimms legendäre Goethe-Vorlesungen von 1874/75 (Wintersemester) und 1875
(Sommersemester) wurden in einem zweibändigen Werk von über 600 Seiten (1. Auflage)
mit zahlreichen Nachauflagen publiziert. Sie prägten das Goethe-Verständnis von
Generationen von Lesern und Studenten. Als einer der bedeutendsten Essayisten des 19.
Jahrhunderts gilt Grimm mit seiner Vorgehensweise des „ganzheitlichen“ Nacherlebens
großer Künstlerpersönlichkeiten und Werke als ein Vorläufer der geistesgeschichtlichen
Kunst- und Literaturbetrachtung im Sinne
Wilhelm Diltheys
. Der zeitgenössischen Fachwelt
erschien er eher als eigenwilliger Essayist denn als Wissenschaftler. Grimm war
Mitbegründer der
Goethe-Gesellschaft
und Mitglied des Herausgeber-Gremiums der 143-
bändigen Weimarer Goethe-Ausgabe.
[374]
Georg Simmel
: Goethe. (1. Auflage. Klinkhardt & Biermann,
Leipzig 1913; (https://archive.or
g/details/goethevon00simmuoft)
5. Auflage. 1923)
Simmels mehrfach aufgelegte und „fast einhellig positiv aufgenommene“ philosophische
Monographie über Goethe umfasst nur 264 Seiten. Mit einer „programmatischen Abkehr
vom Typus der positivistischen Biographie“
[375]
verarbeitet sie Goethes biographische
Daten, um ihn als exemplarische geistige Existenz und Verkörperung einer
unverwechselbaren Individualität darzustellen, die „nicht nur ein Punkt in der Welt, sondern
selbst eine Welt ist“. Diese Individualitäts-Auffassung habe Goethe auch auf seine
hauptsächlichen Gestalten übertragen, „die jede das Zentrum einer individuellen geistigen
Welt ist“.
[376]
Friedrich Gundolf
: Goethe. (1. Auflage. Bondi, Berlin 1916;
7. Auflage 1920; (https://archive.
org/details/goethevon00gunduoft)
13. Auflage. 1930).
Gundolf, ein
George
-Schüler, hat mit seinem fast 800 Seiten starken Werk Goethe als eine
symbolische Person ihrer Zeit dargestellt; Goethe erscheint ihm als „der gestalterische
Deutsche schlechthin“. Seine Publikation löste eine bis dahin ungewohnt heftige
Diskussion aus, an der namhafte Fachkollegen teilnahmen. Die Zeitschrift
Euphorion
widmete der Kontroverse um die Publikation 1921 ein Sonderheft. Der Streit entzündete
sich an Gundolfs geistesgeschichtlicher Vorgehensweise, die die Vertreter einer historisch-
philologisch orientierten Literaturforschung als „schroffsten Gegensatz“ zur Goethe-
Philologie wahrnahmen. Sie bezeichneten Gundolf als „Wissenschaftskünstler“.
[377]
Walter
Benjamin
kritisierte an Gundolfs Buch, es habe "das gedankenloseste Dogma des
Goethekults, das blasseste Bekenntnis der Adepten: dass unter allen Goetheschen Werken
das größte sein Leben sei [...] aufgenommen" und würde demnach nicht streng zwischen
Goethes Leben und seinen Werken unterscheiden.
[378]
Für die gegenwärtige Literaturwissenschaft bieten die drei Monographien keine direkten
Anknüpfungspunkte.
Zwei bedeutende Werke aus den 1950er/1960er Jahren bereicherten die Goetherezeption
durch ihre innovativen Zugriffe:
Emil Staiger
: Goethe. Band I: 1749–1786; Band II: 1786–1814; Band III: 1814–1832. (1.
Auflage Artemis & Winkler, Zürich 1958–1960; 5. Auflage. 1978).
In seiner dreibändigen Monographie sucht Staiger „den Dichter in den Bedingungen seiner
Zeit und seines Raums“ auf.
[379]
Als Bedingungen, unter denen das dichterische und
naturwissenschaftliche Werk steht, werden Geschichte, Ideengeschichte und Psychologie
herangezogen, wobei gleichwohl die Interpretation das Zentrum des Werkes bildet.
[380]
Für
Karl Robert Mandelkow
ist diese Publikation „nicht nur der bedeutendste Versuch einer
Gesamtdarstellung des Dichters seit Gundolf, sondern die für die fünfziger Jahre
repräsentativste Leistung der Goetheforschung“.
[381]
Staigers beeindruckende
Goetherezeption habe durch seine
werkimmanente Interpretation
, die mit den Mitteln der
damals neuen
strukturanalytischen
Literaturwissenschaft arbeitete, seinen Gegenstand der
damaligen
nihilistischen
Zeitstimmung entzogen.
[382]
Richard Friedenthal
: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. (1. Auflage Piper, München 1963,
16. Auflage. 1989).
Mit dieser knapp 800 Seiten umfassenden, „groß angelegten und akribischen Arbeit […]
erzielte Friedenthal einen weltweiten Erfolg“.
[383]
Mit der Biographie wählte er keine
akademische, sondern eine romanartige Darstellungsform oder „geistige Reportage“.
[384]
Dadurch dass Friedenthal das historisch-soziologisch-politische Umfeld, das heißt: die
Misere der Weimarer Verhältnisse umreißt, unter denen Goethe seine Werke produzierte,
wurde sein Werk zu einem Vorläufer der sich seit Mitte der 1960er Jahre in der
Bundesrepublik „vollziehenden Wendung zur politischen Literaturinterpretation und zur
Sozialgeschichte der Literatur“.
[385]
Zu den schwächsten Teilen der sonst verdienstvollen
Biographie rechnet Mandelkow die über den Naturforscher Goethe, die dessen
Morphologie und Farbenlehre als falsch und wirkungslos kennzeichneten.
[386]
Aus den letzten zwei Jahrzehnten sind drei Werke hervorzuheben:
Karl Otto Conrady
: Goethe. Leben und Werk. Band I: Hälfte des Lebens. Band II: Summe des
Lebens. (2 Bände. 1. Auflage. Athenäum, Königstein/Ts. 1985; Neuausgabe in einem Band.
Artemis & Winkler, München 1994).
Mit seiner 1100 Seiten umfassenden Biographie versteht Conrady, das gelehrte
Sachwissen des Philologen ohne Zuhilfenahme eines wissenschaftlichen Apparats
geschickt zu vermitteln. Als erster Goethebiograph verzichtet er auf eine autoritative Sicht
auf seinen Gegenstand „zugunsten einer Darstellungsmethode, die die Möglichkeit anderer,
alternativer Deutungen offenhält“.
[387]
Nicholas Boyle
: Goethe: der Dichter in seiner Zeit (2 Bände. Band I: 1749–1790; Band II:
1790–1803. C. H. Beck, München 1995 und 1999. TB-Ausgabe Insel, Frankfurt am Main
2004).
Der britische Germanist an der Universität Cambridge hat eine monumentale Goethe-
Biographie in Angriff genommen, die als die bei weitem umfangreichste nach 1945 gilt.
Rund 2.000 Seiten umfassen die ersten beiden Bände; der abschließende dritte Band steht
noch aus. Der Autor befindet sich „auf der Höhe der deutschen Goetheforschung“ und in
der Fülle an Details ist er „gründlicher als seine Vorgänger [Staiger, Friedenthal, Conrady] in
den vergangenen Jahrzehnten“.
[388]
Rüdiger Safranski
: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. (1. Auflage Hanser, München
2013; 11. Auflage. 2013).
Ähnlich wie Friedenthal stellt Safranski den engen Zusammenhang zwischen dem Leben
und Werk ins Zentrum dieses „Hausbuchs der Goetheliebhaber“ (
Lorenz Jäger
). Safranski
zeigt zugleich, dass Goethes „Lebenskunst“ darin bestand, die Sphären der Dichtung und
der politisch-administrativen Verantwortlichkeit voneinander zu trennen;
[389]
beide Bereiche
werden in dem 750 Seiten umfassenden Buch ausführlich dargestellt.
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