Samuel Hahnemann Organon der Heilkunst, Auflage



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§ 118


Jede Arznei zeigt besondere Wirkungen im menschlichen Körper, welche sich von keinem andern Arzneistoffe verschiedner Art genau so erreignen 2).
2) Dieß sah auch der verehrungswürdige A. v. Haller ein, da er sagt (Vorrede zu seiner hist. stirp. helv.): „latet immensa virium diversitas in iis ipsis plantis, quarum facies externas dudum novimus, animas quasi et quodcunque caelestius habent, nondum perspeximus."

§ 119


So gewiß jede Pflanzenart in ihrer äußern Gestalt in der eignen Weise ihres Lebens und Wuchses, in ihrem Geschmacke und Geruche von jeder andern Pflanzen-Art und Gattung, so gewiß jedes Mineral und jedes Salz in seinen äußern sowohl, als innern physischen uod chemischen Eigenschaften (welche allein schon alle Verwechselung hätten verhüten sollen) von dem andern verschieden ist, so gewiß sind sie alle unter sich in ihren krankmachenden - also auch heilenden - Wirkungen verschieden und von einander abweichend 3).
3) Wer die so sonderbar verschiednen Wirkungen jeder einzelnen Substanz von den Wirkungen jeder andern, auf das menschliche Befinden, genau kennt und zu würdigen versteht, der sieht auch leicht ein, daß es unter ihnen, in arzneilicher Hinsicht, durchaus keine gleichbedeutenden Mittel, keine Surrogate geben kann. Bloß wer die verschiedenen Arzneien nach ihren reinen, positiven Wirkungen nicht kennt, kann so thöricht sein, uns weiß machen zu wollen, eins könne statt des andern dienen und eben so gut, als jenes, in gleicher Krankheit helfen. So verwechseln unverständige Kinder die wesentlich verschiedensten Dinge, weil sie sie kaum dem Aeußern nach, und am wenigsten nach ihrem Werthe, ihrer wahren Bedeutung und ihren innern, höchst abweichenden Eigenschaften kennen.
Jede dieser Substanzen wirkt auf eine eigne, verschiedene, doch bestimmte Weise, die alle Verwechselung verbietet, und erzeugt Abänderungen des Gesundheitszustandes und des Befindens der Menschen 4).
4) Ist dieß reine Wahrheit, wie sie es ist, so kann fortan kein Arzt, der nicht für verstandlos angesehen sein, und der sein gutes Gewissen, das einzige Zeugniß ächter Menschenwürde, nicht verletzen will, unmöglich eine andre Arzneisubstanz zur Cur der Krankheiten anwenden als solche, die er genau und vollständig in ihrer wahren Bedeutung kennt, d. i., deren virtuelle Wirkung auf das Befinden gesunder Menschen er genugsam erprobt hat, um genau zu wissen, sie sei vermögend, einen, dem zu heilenden, sehr ähnlichen Krankheitszustand, einen ähnlichern, als jede andere, ihm bekannt gewordene Arznei, selbst zu erzeugen - da, wie oben gezeigt worden, weder der Mensch, noch die große Natur vollkommen, schnell und dauerhaft anders als mit einem homöopathischen Mittel heilen kann. Kein ächter Arzt kann sich fortan von solchen Versuchen, vorzüglich an sich selbst, ausschließen, um diese Kenntniß der Arzneien, die am nothwendigsten zum Heilbehulfe gehört, zu erlangen, diese von den Aerzten aller Jahrhunderte bisher so schnöde versäumte Kenntniß. Alle vergangenen Jahrhunderte - die Nachwelt wird es kaum glauben - begnügten sich bisher, die in ihrer Bedeutung unbekannten und in Absicht ihrer höchst wichtigen, höchst abweichenden, reinen, dynamischen Wirkung auf Menschenbefinden nie geprüften Arzneien so blindhin in Krankheiten, und zwar meist mehrere dieser unbekannten, so sehr verschiedenen Kräfte in Recepte zusammengemischt zu verordnen und dem Zufalle zu überlassen, wie es dem Kranken danach ergehen möge. So dringt ein Wahnsinniger in die Werkstatt eines Künstlers, und ergreift Hände voll, ihm unbekannter, höchst verschiedener Werkzeuge, um die dastehenden Kunstwerke, wie er wähnt, zu bearbeiten; daß sie von seiner unsinnigen Arbeit verderbt, wohl gar unwiederbringlich verderbt werden, brauche ich nicht weiter zu erinnern.

§ 120


Also genau, sorgfältig genau, müssen die Arzneien, von denen Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit der Menschen abhängen, von einander unterschieden und deßhalb durch sorgfältige, reine Versuche auf ihre Kräfte und wahren Wirkungen im gesunden Körper geprüft werden, um sie genau kennen zu lernen und bei ihrem Gebrauche in Krankheiten jeden Fehlgriff vermeiden zu können, indem nur eine treffende Wahl derselben das größte der irdischen Güter, Wohlsein Leibes und der Seele, bald und dauerhaft wiederbringen kann.

§ 121


Bei Prüfung der Arzneien, in Absicht auf ihre Wirkungen im gesunden Körper, muß man bedenken, daß die starken, sogenannten heroischen Substanzen schon in geringer Gabe Befindensveränderungen selbst bei starken Personen zu erregen pflegen. Die von milderer Kraft müssen zu diesen Versuchen in ansehnlicherer Gabe gereicht werden; die schwächsten aber können, damit man ihre Wirkung wahrnehme, bloß bei solchen von Krankheit freien Personen versucht werden, welche zärtlich, reizbar und empfindlich sind.

§ 122


Es dürfen zu solchen Versuchen - denn von ihnen hängt die Gewißheit der ganzen Heilkunst und das Wohl aller folgenden Menschen-Generationen ab - es dürfen, sage ich, zu solchen Versuchen keine andern Arzneien, als solche genommen werden, die man genau kennt, und von deren Reinheit, Aechtheit und Vollkräftigkeit man völlig überzeugt ist.

§ 123


Jede dieser Arzneien muß in ganz einfacher, ungekünstelter Form eingenommen werden; die einheimischen Pflanzen als frisch ausgepreßter Saft, mit etwas Weingeist vermischt, sein Verderben zu verhüten, die ausländischen Gewächse aber als Pulver, oder frisch mit Weingeist zur Tinctur ausgezogen, dann aber mit etlichen Theilen Wasser versetzt, die Salze uod Gummen aber gleich vor der Einnahme in Wasser aufgelöst. Ist die Pflanze nur in trockener Gestalt zu haben und ihrer Natur nach an Kräften schwach, so dient zu einem solchen Vorsuche der Aufguß, in welchem das zerkleinte Kraut mit kochendem Wasser übergossen und so ausgezogen worden ist; er muß gleich nach seiner Bereitung noch warm getrunken werden; denn alle ausgepreßten Pflanzensäfte und alle wässerigen Pflanzen-Aufgüsse, gehen ohne geistigen Zusatz schnell in Gährung und Verderbniß über, und haben dann ihre Arzneikraft verloren.

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