Popularmusiker in der provinz


(1) Die Hamburger Rockgruppe Oktober



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(1) Die Hamburger Rockgruppe Oktober


Zweifellos gehörte dieses Ensemble, das von September 1974 bis zum 7.6.1980 existierte, nicht zu der in dieser Arbeit interessierenden ”Szene”. Da aber dem Ex-Osnabrücker und Ex-Oktober-Mitglied Kalla Wefel, der die Gruppe seinerzeit mitgegründet und ihr während ihres Bestehens als Bassist, Gitarrist, Sänger, Texter und Komponist angehört hatte und der mittlerweile wieder in Osnabrück wohnhaft ist, einige Detail-Informationen zu verdanken sind und die Oktober-Musiker darüber hinaus an einem in dieser Arbeit gewürdigten Ereignis von in popularmusikalischer Hinsicht gewissermaßen ”nationaler Tragweite” nicht ganz unbeteiligt gewesen sein dürften - der ”Rock-gegen-Rechts”-Bewegung -, soll den Aktivitäten dieser Formation sowie denen ihres Mitbegründers Kalla Wefel die folgende kurze Darstellung gewidmet sein.
Seine ersten Schritte auf dem Gebiet popularmusikalischer Praxis unternahm Kalla Wefel, Jahrgang 1951, in den 1960-er Jahren in der Osnabrücker ”Beat-Szene”. In diesem Zusammenhang hatte er sporadisch auch gemeinsam mit Spaß, einem der beiden in dieser Arbeit vorkommenden ”älteren” Interviewten, Musik gemacht.

Bald jedoch schließt sich Kalla Wefel - noch während seiner Schulzeit bereits Vater eines Sohnes geworden - der örtlichen ”linken Szene” an, ”exponiert” sich bei entsprechenden Aktionen und betreibt zeitweilig - allein, wie er behauptet - den ersten und einzigen Osnabrücker ”linken Buchladen”.

Die Möglichkeit, doch noch das Abitur zu machen, veranlasst Kalla Wefel schließlich, im Jahr 1972 nach Hamburg überzusiedeln. In Osnabrück wäre ihm dieses schon allein wegen seines Rufes zumindest nicht ohne gewisse Probleme mehr möglich gewesen.

Auch in Hamburg schließt Kalla Wefel sich der ”linken Szene” an, gründet 1974 die Rockgruppe Oktober und schreibt sich nach dem Abitur trotz eines Verbrauchs von ca. 80 Zigaretten täglich für ein Sportstudium/Lehramt ein.

Daraus, dass er sein Studium aus ”Alibi”-Gründen gewählt hat, um zunächst an der Möglichkeit eines günstigen Krankenversicherungsangebotes partizipieren zu können, aber auch, um vorerst weiterhin finanzielle Unterstützung von seinem Vater - einem Osnabrücker Arzt - zu beziehen, machte Kalla Wefel seinerzeit keinen besonderen Hehl, obschon er später immer wieder betont, er habe bereits aus den sich aus der Tätigkeit mit der Rockgruppe Oktober ergebenden Einkünften seinen Lebensunterhalt bestreiten können.

Unter besonders ”luxuriösen” Umständen hatte Kalla Wefel in Hamburg andererseits jedoch nie gelebt, ebenso auch nicht die anderen Oktober-Mitglieder.


Gegründet im September 1974 spielt die Hamburger Rockgruppe Oktober in wechselnden Besetzungen. Mit dabei sind aber immer : Peter Robert, der Keyboarder und Kalla Wefel.

Musikalisch hatte sich Oktober im weitesten Sinne zunächst dem popularmusikalischen Genre des ”Art-Rock” verschrieben, als dessen u. a. derzeit wichtige Protagonisten die englischen Gruppen ”Yes” und ”Genesis” betrachtet werden können. Ein Faible für ”Art-Rock” pflegt Kalla Wefel im übrigen bis zum heutigen Tag.

Mit der Zeit werden aber die zunächst englischen Texte im Oktober-Repertoire durch deutschsprachige ersetzt. Letztere wiederum - ein weiteres Charakteristikum des Stils der Hamburger Rockgruppe Oktober - transportieren Inhalte ”links-ideologischer” Prägung.

Die spezielle Verknüpfung dieser beiden Stilelemente in der Oktober-Musik - mitunter auch jedes einzelne davon für sich genommen - machen die Gruppe in gewisser Weise ”kontrovers” : Werden auf der einen Seite bisweilen die ”Konstruiertheit” der ”Art-Rock”-Kompositionen moniert, so erscheinen Kritikern andererseits die Texte zu den in einzelnen Oktober-Werken (z.B. in einem über die ”Pariser Kommune”) behandelten ”Gegenständen” nicht adäquat genug, wie auch an anderer Stelle gegenüber der ”Stimmigkeit” des ”künstlerischen Gesamtkonzeptes” der Gruppe gewisse Zweifel geäußert werden.


Die offenkundige ”links-politische” Einfärbung der Oktober-Texte führt zudem vor dem Hintergrund derzeitiger allgemeiner ”ideologischer Betulichkeiten” und der damit zusammengehenden Spaltungsmanie zumindest in ”linken ”Szene”” der BRD zu bisweilen missliebigen Konsequenzen für die Gruppe : So hat man Anfeindungen in entsprechenden einschlägigen ”Presse-Organen” (”Kleinbür-gerliche Scharlatane im fortschrittlichen Mantel”/Bezirksbeilage Westberlin der KOMMUNISTISCHEN VOLKSZEITUNG vom 21.10.1976), aber auch gelegentliche ”Störaktionen” der Konzertauftritte durch nicht wohlwollend gesinnte linke Gruppierungen zu erdulden (”KBW-Amoklauf gegen Musikveranstaltung”/ROTFRONTSTADT, Berlin, November 1976 ; vergl. auch ”Arbeiter-kampf” Nr. 92 vom 1.11.1976 : ”Ein toller Erfolg”).

Andererseits erlebt die Hamburger Rockgruppe Oktober in der zweiten Hälfte der 1970-er Jahre ein gewisses ”Popularitätshoch” : Es gibt Auftritte vor z.T. über 3.000 Konzertbesuchern sowie die Teilnahme an dem spektakulären Frankfurter Event der o.g. ”Rock-gegen-Rechts”-Bewegung, welchem angeblich ca. 20.000 Personen beigewohnt haben sollen, Abstecher ins benachbarte Österreich, die Zusammenarbeit mit dem Wiener Vocal-Ensemble Die Schmetterlinge, diverse Schallplattenproduktionen, der NDR stellt regelmäßig die neuerschienenen Oktober-Werke in seinen Jugendfunksendungen vor und lädt die verantwortlichen Akteure, vorzugsweise Kalla Wefel, zu Interviews ein. Darüber hinaus erscheinen viele Zeitungsartikel, und in einer Buchpublikation eines Hamburger Autors über neue, vorzugsweise in irgendeinem Sinne als ”politisch” apostrophierbare deutsche Rockgruppen wird das Ensemble ebenfalls ausführlich abgehandelt (S. Peinemann, ”Die Wut, die du im Bauch hast”, Reinbek b. Hamburg 1980).


Natürlich werden Oktober in diesem Zusammenhang - außer vom NDR - auch von weiteren der aus ”linker” Sichtweise wohl eher als ”bürgerlich” zu bezeichnenden Medien beachtet, z.B. von diversen regional erscheinenden Tageszeitungen, der Musikzeitschrift ”Sounds”, verschiedenen überregional publizierten, gewerkschaftlich ausgerichteten Jugendorganen, der ”Frankfurter Rundschau”, dem Österreichischen Fernsehen u.a., wohingegen das Ensemble von eher ”konservativ” gestimmten bürgerlichen Medien weitestgehend ignoriert wird - ein Umstand, der aber zu dieser Zeit ebenso für sich nicht politisch exponierende, z.T. auch bekanntere Rockgruppen geltend gemacht werden kann.
Außer dem Auftauchen auf diversen Samplern liegen von und/oder mit Oktober insgesamt vier LP- bzw. Doppel-LP-Veröffentlichungen vor :


  • die LP ”Uhrsprung”, auf welcher die Situation ausgebeuteter Lehrlinge thematisiert wird




  • die Konzept-Doppel-LP ”Die Pariser Kommune”, die zum genannten Gegenstand handelt




  • die LP ”Himmel auf Erden”, kein Konzept-Werk

Ferner entstand in Gemeinschaftsarbeit mit den Österreichischen Schmetterlingen nach Texten des derzeit wegen RAF-Sympathisantentum einsitzenden Dichters P. P. Zahl die Konzept-LP ”Alle Türen offen”.


In welcher Größenordnung sich die genannten Tonträger seinerzeit verkauft hatten, ist nicht genau bekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürften die Verkaufszahlen jedoch jeweils im vierstelligen Bereich angesiedelt gewesen sein. Kalla Wefel selbst behauptet, von der ”Pariser Kommune”-LP seien sogar mehr als 20.000 Einheiten verkauft worden.

Ebenso wenig Genaues ist darüber bekannt, wie die besagten Produktionen finanziert worden sind, zumal sie von kleinen Schallplattenfirmen veröffentlicht wurden, die wahrscheinlich über kein eigenes Vertriebsnetz verfügt hatten.

Zwar hat es sich zumindest bei der ”Alle Türen offen”-Produktion um eine Art ”Solidaritätsaktion” zugunsten des Dichters P. P. Zahl gehandelt, für deren Erstellung immerhin die beteiligten Musiker - so ist es dem Hüllentext zu entnehmen - kostenlos ihr Können einbrachten. Die Herstellungskosten für den Tonträger in fünfstelliger Größenordnung dürften deswegen jedoch nicht weggefallen sein. Auch diesbezüglich sagt Kalla Wefel, die Gruppe habe nie eigenes Geld in die Produktionen stecken müssen. Von den zur Verfügung gestellten Etats sei manchmal sogar noch etwas übrig geblieben.

Hinsichtlich der ”Pariser Kommune”-LP wird an dieser Stelle angenommen, dass mitwirkende Gastmusiker eventuell - gewissermaßen aus ”Understatement” - auf Honorar verzichtet haben könnten, weil sie sich ebenfalls aus Teilen der Hamburger ”linken Szene” und/oder dem Bekanntenkreis um die Gruppe Oktober rekrutierten.

Ebenso sollte in diesem Zusammenhang auch die Hoffnung unbekannter Musiker einkalkuliert werden, das eigene Können durch das Auftauchen auf dem ”Multiplikator” Schallplatte einem größeren Personenkreis zugänglich bzw. bekannt zu machen. Kalla Wefel sagt jedoch, die Gruppe habe durchaus ”etwas verdient” mit ihren Schallplatten-Produktionen, und man habe den beteiligten Musikern meistens auch kleine Gagen für ihre Mitwirkung ausbezahlen können.

Auffällig ferner, dass Veröffentlichungen von Oktober-Werken, in denen bestimmte Themenstellungen gewählt worden waren, bisweilen fast zeitgleich mit der Herausgabe von Tonträgerproduktionen erfolgte, auf denen sich Kollegen mit denselben bzw. ähnlichen Themen beschäftigt hatten, z.B. im Fall der ”Pariser Kommune”, der sich auch die Österreichischen Schmetterlinge im Zusammenhang ihres etwa zur gleichen Zeit erscheinenden Schallplatten-Opus ”Proletenpassion” gewidmet hatten. Im selben Schwung Neuveröffentlichungen der Schallplattenfirma ”Eigelstein”, in dem auch die Oktober-Produktion ”Himmel auf Erden” mit einer Version von P. P. Zahls ”Brockdorfer Kantate” enthalten war, findet sich unter dem Titel ”Brockdorfer Kantate” auch ein Werk einer Stuttgarter Jazz-Rock-Formation.

Ebenso berichtet Kalla Wefel von einem Streit, der zwischen den Oktober-Musikern und dem in Hamburg lebenden DDR-Dissidenten Biermann, zu dem die Gruppe seinerzeit gute bekanntschaftliche Beziehungen pflegte, über eine auf der ”Himmel auf Erden”-LP enthaltene Vertonung eines Heine-Textes ausgebrochen sein soll. Biermann, der selbst einige Lieder zu Heine-Vorlagen komponiert hatte, soll sich über die Vertonung des Textes aus angeblich ”ästhetischen Gründen” erheblich echauffiert und sich - aus einer gewissen ”künstlerischen Eitelkeit” heraus, wie Kalla Wefel im Nachhinein geltend macht - ereifert haben : So könne man Heine nicht vertonen.
Nach dem Split von Oktober, dem eine Tournee der Gruppe zusammen mit den Ex-DDR-Liedermachern Pannach & Kunert vorausgeht, übersiedelt Kalla Wefel zunächst nach Kanada, kehrt aber kurze Zeit später nach Hamburg zurück, wo er unter dem Namen Clinch eine Formation gründet, die in das derzeit aktuelle Genre der ”Neuen Deutschen Welle” einzuordnen ist.

Obschon die Gruppe schnell mit einer großen Tonträgerfirma handelseinig und u.a. durch verschiedene Fernsehproduktionen und -auftritte ”gepushed” wird, scheitert die Karriere : Die Combo geht auseinander, und Kalla Wefel wird für einige Jahre in Hamburg Taxifahrer.

Nachdem Kalla Wefel über seine Taxifahrer-Zeit ein Buch geschrieben und auch veröffentlicht hat, welches er dann später für das erste Programm des Kabarett-Duos Spvg. Turn und Taxis ausgeschlachtet hatte, ist er inzwischen als Solo-Kabarettist und Übersetzer englischsprachiger Bücher tätig.

Der ”Fall” der Hamburger Rockgruppe Oktober und der hier referierten Nachfolgeprojekte - zumindest derjenigen aus dem popularmusikalischen Bereich - soll an dieser Stelle als Beispiel für den Fall betrachtet werden, dass im Popularmusik-Bereich tätige Akteure für ihre Musik zwar durchaus entsprechende Resonanz in den Massenmedien finden, aber dennoch über ihre musikalische Tätigkeit nicht unbedingt ihren Lebensunterhalt sicherstellen können - zumindest nicht auf Dauer.

Anders als die Angehörigen der in dieser Arbeit interessierenden ”Szene” befinden sich Kalla Wefel und die anderen Oktober-Musiker in Hamburg in einem relativ günstigen Umfeld : Die Stadt gilt als ”Medienzentrum”, und ebenso sind hier viele wichtige Popularmusikverwerter ansässig. Dennoch gehen sie, auch während des Bestehens von Oktober und trotz gegenteiliger Aussagen zumindest von Kalla Wefel, diversen anderen Beschäftigungen nach, um ihre finanzielle Situation zu verbessern, oder nehmen die Unterstützung ihrer Eltern in Anspruch. So betätigte sich Kalla Wefel während dieser Zeit u. a. als Chauffeur, der Keyboarder Peter Robert war zeitweilig für Meinungsforschungsinstitute unterwegs (Was allerdings nicht verbürgt ist !). Ein Gitarrist aus einer späteren Oktober-Besetzung jobbte in der Hamburger Filiale einer großen Buchladenkette (angeblich aber, so Kalla Wefel, erst nach dem Oktober-Split).

Dass wegen der dezidierten politischen Statements der Gruppe Oktober oder ihren Mitgliedern ein Beitritt zur ”Welt der professionellen Popularmusik” quasi ”a priori” verwehrt gewesen sei, kann ebenfalls nicht behauptet werden. Schon Beispiele aus dem Oktober-”Umfeld” bestätigen diese Auffassung : Die Gesangsgruppe Die Schmetterlinge hatte nicht nur sehr eng mit den Oktober-Musi-kern zusammengearbeitet, sondern in ihren eigenen Veröffentlichungen auch eine ähnliche politische Einstellung zum Ausdruck gebracht (vergl. Peinemann 1980, S. 86 ff.). Trotzdem tauchte dieses Ensemble Jahre später mit einem eigens dafür komponierten Titel als Österreichischer Beitrag zum ”Grand Prix d´ Eurovision” auf, dem großen europäischen Schlagerwettbewerb. Willi Resetarits, ehemaliges Schmetterlinge-Mitglied, galt in jüngerer Vergangenheit mit seiner Combo Ostbahn-Kurti & Die Chefpartie als Österreichischer Rock-Superstar. Zur Zeit firmiert er als Dr. Kurt Ostbahn in der Österreichischen Popularmusik-Szene.

Auch Kalla Wefel hatte mit dem Ensemble Clinch zeitweilig die Möglichkeit einer Karriere in der ”Welt der professionellen Popularmusik” gehabt.

Eine Erörterung, welche Gründe es für das Scheitern dieser Karriere gegeben haben könnte, würde aller Wahrscheinlichkeit den hier gesetzten Rahmen sprengen und müsste u.U. Gegenstand einer eigenen - möglicherweise nicht ganz uninteressanten - Studie sein.




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