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schließen zu müssen, dass er keine Chance habe, von seiner
Angebeteten beachtet zu werden. Die Flucht aus dem ver-
meintlichen Unglück treibt ihn weiter in die Welt hinaus.
Zweimal scheinen sich nun Gelegenheiten zu bieten, das
große Glück zu machen. Als ihm das Mädchen in dem Dorf,
in dem er
so erfolgreich aufgespielt hat, Wein und später ei-
ne Rose schenkt und beiläufig erwähnt, dass ihr Vater »sehr
reich« (33) sei, bemerkt er: »[…] ich konnte da mein Glück
machen, eh man die Hand umkehrte« (34). Doch die Ge-
danken an »die gnädige Frau« (35) und die plötzlich auftau-
chenden Reiter unterbinden weitere Überlegungen. Auch
die Verlockungen der römischen Gräfin sind eindeutig. Von
ihrem Standpunkt aus betrachtet, hat die Kammerjungfer si-
cher Recht, wenn sie dem Taugenichts vorhält: »[…] du
trittst dein Glück ordentlich mit Füßen« (79). Bei der Grä-
fin könnte der Taugenichts alles haben, was aus der Sicht der
Kammerjungfer für einen jungen Mann als wünschenswert
erscheint.
Doch die Vorstellungen und das Empfinden des Tauge-
nichts haben sich längst gewandelt.
Seit jenem Tag, als er
glaubte, dass seine Geliebte von ihm einen Blumenstrauß er-
beten habe, also glaubte, schließen zu dürfen, dass seine Lie-
be bemerkt und möglicherweise erwidert würde, hat das
Wort Glück für ihn einen anderen Inhalt bekommen. Wenn
er sich erinnert: »Ach, ich war so glücklich!« (21), so hat er
entdeckt, dass glücklich zu sein etwas anderes meint als
Glück zu haben. Lieben und zugleich geliebt werden macht
jenen
Zustand aus, der jetzt mit »glücklich sein« umschrie-
ben wird. Genau an diesen kurzen Augenblick wird sich der
Taugenichts während seiner Flucht-Reise erinnern; nämlich
an »die schöne alte Zeit«, als er »so glückselig war« (62), und
an jenen »glückseligen Sonnabend« (72), an dem er glaubte,
von seiner Geliebten eine Flasche Wein erhalten zu haben.
Solange er die Missverständnisse nicht durchschaut und so-
lange ihm nicht bewusst ist, dass eine höhere Macht ihn
lenkt und er beschützt und gewärmt wird durch einen »Poe-
tenmantel«, solange denkt er in Melancholie an jene Zeit.
Alles aber wird aufgelöst durch
die Rede des jungen Grafen
und den letztgültigen Appell: »[…] liebt euch wie die Ka-
ninchen und seid glücklich!« (95).
Damit kann eine neue Lebensphase beginnen. Die Suche
nach dem Glück kann als abgeschlossen gelten. Vorläufig, so
lautet der Schluss, »war alles, alles gut!« (101). Wie dieser
Zustand, glücklich zu sein, in einem gemeinsamen Leben zu
halten ist, bleibt eine offene Frage. Gerne wüsste man, ob
der Erzähler mit dem »Ach« in seinem Ausruf »Ach, ich war
so glücklich« (21), andeutet, dass
sich seine Lebenssituation
schon wieder geändert hat. Über seine konkrete Erzählsi-
tuation lässt er den Leser im Unklaren. Hat er möglicher-
weise erfahren, was Glück ist, dieses aber wieder verloren?
Erzählt er, wie sein Glück anfing – froh, weil es anhielt, oder
resignativ, weil es vergangen ist?
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