Mein krieg aufzeichnungen aus 2129 Tagen



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der Verpflegungsempfang verzögerte und ich erst zurückkam, als die Kameraden schon losgegangen Waren. Sie waren noch keine halbe Stunde fort, da schossen die Russen mit einer besonderen Waffe, die sie bereits in den letzten Tagen mehrfach in diesem Ab- schnitt benützt haben [die »Stalin-Orgel«]. Wir haben sie auch, und es ist daher nicht angebracht, etwas Genaueres darüber zu sagen.

Mit ihrer Hilfe ist es möglich, einen Geländestreifen derart dicht zu beschießen, daß dort wirklich »kein Gras mehr wächst«. Du hörst einen rauschenden Ton, als ob Riesenfledermäuse über Dir flatter- ten, und hast dann ein paar Sekunden Zeit, Dich in Deinem Loch an die Erde zu schtniegen, so dicht wie es nur geht. Und dann beginnen die Explosionen der Geschosse prasselnd wie ein Monsterfeuer- werk. Auch der Anblick ist nachts recht festlich, wie ein silberner Wasserfall, too oder zoo Meter breit, kommen die Granaten herun- ter.

[Von der Schwester]

Berlin, den31,August41. Dein P.K.-Berichtan F. [vorn 1;. August 41 an H.F., die Buchhändlerin in Berlin] war eine Ergänzung zum Völleischen Beobachter, der wurde sich freuen, wenn er so etwas lase, aher er hat Wichtigeres zu tun, er muß uns sagen, daß die Ita- liener sich daran beteiligen, Europa in Ordnung zu hringen, sonst glauht es namlich leeiner mehr. Ich möchte jetzt leein Italiener in Berlin sein.

Von Papa hahe ich lange nichts gehört. Er schrieh in den Berichten aus Smolensle ganz vergnugt. Daß ihm die Sache mit seinen 65 fah- ren so Spaß macht, ist doch wunderschön. In nichts sieht er Prohle- me, er muß keinen Idealen nachlehen – das erleichtert ihm die jet- zige deutsche Geschichte sehr, nicht/'eder /eann es und nicht irnrner ist es richtig, aher er haut so sein Lehen, ohne Worte zu verlieren. Ich /eönnte neidisch werden. Morgen trottle ich zum erstenmal nach Borsigwalde in die Munitions- und Waffenfahrile und muß /eunftig um 4 Uhr fruh aus dern Bett.

Mach's gut, schönes Wetter, ein etwas größeres Erdloch, wenig Rus- sen vor Euch und viel Vergnugenfur Petersburg. Wenn Du Sohlen- lederfiir ein Paar Schuhe siehst, den/e an mich. Dasfiel rnir ehen ein, T. will niir Schuhe machen, wenn er Material hat.

31. August 41. Ich wollte, glaube ich, einmal meine Schiitzenlöcher nurnerieren, sogar in römischen Ziffern, ich fürchte, ich käme jetzt 182


schon auf eine zeilenlange Zahl. Mein gestriger Dachbau hat sich bewährt, ich blieb trocken, die andern ersoffen fast in ihren Lö- chern. Die Strümpfe verfaulen langsam in den Stiefeln.

Wir haben eine Stellung im Gebiet des Nachbarregiments über- nommen, sie liegt am oberen Rand eines Steilhanges. Der Boden be- steht hier aus rotem Lehmpulver, in dem es sich so leicht gräbt wie in Dünensand. Ich grub für mich und den Unteroffizier unsere Bleibe aus, die Zeltbahn ist ausgespannt, es regnet pausenlos. Im Laufe der Nacht wird das Wasser auch ins Loch rinnen. Wir si- chern. An Angriff ist nicht zu denken. Die Gedanken laufen mir vor Müdigkeit weg.

Umsonst gebuddelt – da kommt ein Melder, wir ziehen aus und um.

Bis zum Ural so weiter – bis 1992!?

Am nächsten Morgen, 1. September 41. Wir haben eine scheufšliche Nacht hinter uns, nur 300 tn weiter links vom ursprünglichen Platz verbracht. Aber welche Veränderung! Kein Steilufer, kein roter trockener Sand, statt dessen ein abgeerntetes Kornfeld, der Lehm vom Regen aufgeweicht, das allmählich tiefer werdende Loch im- mer voll Wasser. Wir gruben zu zweit unter diesen Umständen kein Loch, sondern nur eine Mulde. Mehr im Element der Fische als dem der Menschen verbrachten wir die Nacht. Wir zehn Männer bilde- ten auf zoo m die ››Front«, davor und dahinter war nichts, das Kräf- teverhältnis soll etwa 30 : 1 zugunsten der Russen sein. Darüber scheinen sie nicht im Bilde zu sein; schon häufig dachte ich, daß sie ihre Chancen nicht wahrnehmen. Hier sollen große Minensperren angelegt und wir herausgezogen werden. Das ist die gleiche Situa- tion wie vor ı4 Tagen. Schon schießen die Abtransportgerüchte wieder üppig empor.

Am Vormittag, nachdem ich das ››Reich« von vorne bis hinten durchgelesen habe. Es ist die Nummer vom 17.8. und enthält die Schilderung der Mozartaufführung in Salzburg. Was für eine ferne Welt! Mich überkommt Sehnsucht, am Flügel in der Ruhlaerstraße zu sitzen und einen Es-Dur-Akkord anzuschlagen. Eine vernich- tende Filmkritik von Petersen, eine Glosse über den Stammkunden, eine ausgezeichnete Besprechung des neuen Carossa und viel über Ostasien, wo die Dinge allmählich der Explosion zutreiben – das ist mir von zwei Stunden lesen geblieben.

5. September 41. Die Kosaken machen sich auf unseren rückwärti- gen Verbindungswegen sehr störend bemerkbar. Ich sah auf der 183


Fahrt zum Troß eine Menge der Blauhosen auf den Feldern und ne- ben der Straße liegen. Sie brechen nachts aus den Wäldern hervor und manchmal gelingt ihnen ein Überraschungssieg. So ist ein Ver» mittlungstrupp meiner alten Nachrichtenkompanie von ihnen überfallen worden, und nur vier konnten sich in die Wälder retten und auf großen Umwegen nach zwei Tagen zu ihrer Truppe zu- rückkehren. Die übrigen sind gefallen, die Fahrzeuge wurden zer» stört. Du siehst, es ist hinten auch nicht sicher. Nun will ich ein we- nig auf Vorrat schlafen, die Nacht wird ganz durchwacht werden müssen. Die russischen Flieger sind lebhaft, im Tiefflug kommen sie über die Stellung, man fühlt sich im Loch sicherer als man ist.

Ihre Maschinen sehen fabrikneu aus. Die Ansicht wird laut, es seien amerikanische. USA ~ England › Rußland – Japan – Deutschland – Italien: ein Sternbild und rundherum die vielen kleinen Trabanten, manche noch unsicher auf ihrer Bahn -fast ohne Rest die ganze Welt im Krieg!

6. September 41 . Meine Stiefel wollen nicht mehr mittun. In diesem Dorf, in dem wir gerade halten, machte ich einen Schuster ausfin- dig. Barfuß sitze ich vor seinem Haus, während er die klaffenden Sohlen wieder befestigt. Er und seine Frau sind sicher hoch in den Siebzigern. Sie gehen freundlich, ja zärtlich miteinander urn. Sie stellte ihm den Kasten mit dem Handwerkszeug hin, und er bat mich, meine verschmutzten Stiefel draußen zu säubern. Die Stube hat einen gewaltigen Schlafofen, an einer der Holzwände, aus Bal- ken gefügt, hängt eine Pendeluhr, die geht; große Heiligenbilder hängen zwischen den Fenstern, Blumen stehen davor in Kästen. Es ist blitzsauber; als ich barfuß herumging, fegte die alte Frau den- noch mit einem Laubbesen nicht vorhandenen Staub weg. Auf dem Tisch liegt mein Gewehr, der Stahlhelm, das Koppel mit den Patro~ nentaschen, und zum erstenmal seit dem 22. Juni sind das störende Gegenstände. Ich selber empfinde mich plötzlich schmutzig und verwahrlost, als sei ich ein Soldat aus dem Dreißigjährigen Krieg.

Daß ich Strümpfe anhabe, die diesen Namen eigentlich nicht mehr verdienen, beschämt mich vor der alten Frau. Sie bot mir ein Stück Brot und eine Tasse Milch an, wobei sie sich entschuldigte, dem Gast gebühre Tee, aber sie habe keinen, es sei ja Krieg. Ich verstand plötzlich Russisch, ich verstand Wort für Wort, was die Frau sag« te.

1 I. September 41 . Von der Hügelstellung marschierten wir gestern 184


früh im Morgengrauen ab, zum Fluß hinab, um anzugreifen. Un- sere Gruppe war wie üblich an die Spitze befohlen worden, wir be- wegten uns am Rand des steil abfallenden Ufers vorwärts. Den Fluß hatten wir zur Linken. Bald erreichten wir eine Stelle, wo von rechts her ein Bach einmündete, der sich gleichfalls ein tiefes Bett gegraben hat, das uns hemmte. Dörr, der Unteroffizier, und die beiden MG-Schützen gingen auf dem linken Flügel der zur Kette ausge- schwärmten Gruppe, sie waren dem Fluß am nächsten und uns an- deren ein paar Schritte voraus. Als stellvertretender Truppführer war ich der letzte Mann auf dem rechten Flügel. Dörr war den Ab- hang der kleinen Schlucht schon fast bis zur Hälfte hinuntergeklet- tert, während ich mich, an einem Busch festhaltend, erst über ihren Rand hinurıterließ, als ich vom Luftdruck einer Explosion umge- worfen wurde. Unterhalb von Dörr, nahe der Mündungsstelle des ßaches, schossen wie Lava aus einem Vulkan Erdreich und Steine empor. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, daß eine Mine vor uns explodiert war. Ich rannte zu Dörr hin, der aber be- reits den Steilhang liegend heraufkroch; er taumelte, als er oben an- kam. Die beiden MG-Schützen waren auch übel zugerichtet. Die Uniform hing in Fetzen an ihnen herunter. Dörr berichtete, er habe ein Stück Binclfaden vor sich gesehen und es aufheben wollen. Im gleichen Augenblick sei die Mine hochgegangen. Wir stellten fest, daß es sich um eine Holzmine gehandelt hat, deren Metallfutter in stecknadelkopfgroße Splitterchen zerrissen worden ist, die die Haut der drei Verwundeten an zahllosen Stellen durchbohrt haben.

Ein Glück, daß die Mine in lockeres Erdreich vergraben gewesen war. Ware sie aus felsigem oder steinigern Grund hochgegangen, wäre die ganze Gruppe ausgefallen. Wir waren nur noch fünf Mann und mir wurde befohlen, sie zuführen. Ich drückte Dörr die Hand, ich werde ihn kaum wiedersehen, er kommt ins Lazarett. Wir mar- schierten weiter, vorsichtiger jetzt. Erst nach Stunden stießen wir auf Russen.

13. September 41 . Zwischen zwölf und zwei und zwischen vier und sechs ging ich Wache vor unserer Stellung. Mein Trupp ist wieder aufgefüllt, wir sind neun, aber ich teilte die Neuen noch nicht zur Wache in der Dunkelheit ein, sie kommen direkt von einem Ersatz- haufen irgendwo an der polnischen Grenze. Das Gelände ist verteu- felt unübersichtlich. Es regnet in Strömen. Die Arbeit des alten Schusters ist diesem Wetter und dem schwammigen Boden nicht 185


gewachsen. Die Sohlen hängen nur noch beim Absatz am Oberle- der. Ich band sie fest. Klatsch-klatsch macht es bei jedem Schritt.

Der Zugführer erschien, als es gerade hell wurde, und ich fürchtete schon, er brächte den Befehl zum Aufbruch, aber er erkundigte sich nur, ob ich nicht glaubte, daß der Trupp abgelöst werden müsse, denn wir hatten nicht nur die Wache zu besetzen, sondern auch eine Pendelstreife zu gehen über ıgo rn Waldgelände zur Nachbarkom- panie. Ich dachte an ein festes Dach im Dorf, aber auch an den 4 km-Marsch dorthin und die Möglichkeit, nach ein paar Stunden Ruhe auf Spähtrupp geschickt zu werden – und sagte, wir hielten das schon nochmal 24 Stunden aus.

Ich habe die Zeltbahn in bewährter Manier übers Loch gespannt, die Stiefelruinen stehen auf Stroh, die Füße erwärmen sich ein biß- chen. Die Stille in dem Wald vor uns gefällt uns gar nicht.

[Vom Vater des Verfassers an dessen Frau]

13. September 41. Heute /eamen Deine Briefe 'vorn 22. und 24.8.

uber Erich. Ein ange/eundigter Brieffvomz 1. 8. ist noch nicht da. Ich glaube nicht, daß der Krieg so lange dauert, bis Erich Soldat wird.

Dabei ist es so einfach. Alle reden 'von Anstrengungen und Aufre- gungen. Ich habe weder das eine noch das andere erlebt. In derrıAn- genlølic/e, in dem man sich zur absoluten Wurstigleeit be/eennt, ist an diesem ganzen Krieg nichts Außergewöhnliches.

I4. September 41. Mit drei Gruppen sind wir in den Wald hinein.

Bevor es losging, nahm der Feldwebel den Zug zusammen und sag- te, dies sei unser letztes Unternehmen in diesem Abschnitt, heute abend würden wir auf die Fahrzeuge verladen und über Staraja Russa nach Porchow in Marsch gesetzt werden. Das sei zu 90 % si- cher. Wohin es dann gehe, wisse er nieht. Noch weniger, was wirk- lich im Wald stecke. Was wir darin treiben sollten, nannte er be- waffnete Aufklärung. Die Sache ist glirnpflich abgelaufen, wir ha- ben drei Leichtverwundete, und dafür reiche Beute. Als wir wirk- lich nach etwa I km im Wald auf eine Lichtung mit Russen stießen, kam es zu einem kurzen Feuergefecht, aber wir hatten keine Infan- teristen gegenüber – die sich so schnell nicht ergeben hätten -, son- dern Artilleristen. Sie standen zwischen ihren Fahrzeugen, Protzen und Pferden, und führten zwei io, 5 -Geschütze mit sich, von denen uns absolut unerklärlich ist, wie sie die so tief in den Wald hineinge- bracht haben. Da sie wissen, daß er ringsum von uns urnstellt ist, 186


sind sie demoralisiert. Wir haben etwa 60 Gefangene gemacht, und wenn wir als Infanteristen in den Wald hinein sind, so kamen wir als Kavalleristen wieder heraus, hoch zu Roß. Das ganze Unternehmen hatte etwas von Karl May. Ich habe meine Privatbeute gemacht.

Auf einem Baumstumpf sah ich ein weißes, viereckiges Päckchen liegen › es enthielt Tee! Im nächsten Urlaub werden wir ihn trin- ken.

Während ich schreibe, zieht bespannte Infanterie vorbei. Sie über- nimmt heute abend wirklich unsere Stellungen.

Ich habe dem Bataillonsarzt meine Beine gezeigt. Er besah sie sich mit Mifšfallen und sagte, so ginge das nicht weiter. Die vereiterten Löcher, beiderseits vom Knöchel bis zum Knie die Waden bedek- kend, schmerzen nicht mehr, aber sie nehmen zu an Umfang und Tiefe. Der Doktor sagte, ich sollte eine Woche keinen Dienst ma- chen, Sandalen tragen, die Hosen hochkrernpeln, damit Luft ran- käme. Das trifft sich ausgezeichnet, die Stiefel sind sowieso hinü- ber, und wir werden verladen.

14. September 41 [E.K.-Sch.]. Eben las ich meine Briefe 'vom 31.

August lvi:3. September, dieselbe Zeit, aus der ich heute Deirıe ach so sehr arıgestrengterı Briefe be/earn. Es ist mir ein Trost, daß ich da- mals recht deutlich von Dir wußte und daß die Briefe, meine, gar so gerıau zu Deiner Situation pa/šterı – so hoffe ich, daß arı meiner Be- ruhigung seit dem 6. oder 7. etwas Wahres dran ist.

17. September 41. Heute, an unserem dritten Marschtage [auf Lastwagen], geht es endlich vorwärts. Bisher sind wir gekrochen und haben im Laufe von zweimal 24 Stunden keine längere Strecke hinter uns gebracht, als ein Fußgänger in derselben Zeit bequem ge- leistet hätte. Scharfes, fast schon winterliches Sonnenlicht füllt die ausgefahrenen Geleise und die tiefen Löcher der Straße mit harten Schlagschatten. Ein eisiger Wind kommt von vorne. Wir haben uns bis über den Kopf in Decken eingehüllt, an denen es uns infolge der vielen Verluste in der Kompanie nicht mangelt. Nachts setzen wirdie eisernen Streben und breiten die fensterlose Plane über den Wagen – ein Zeichen, daß wir vom Feinde schon weit entfernt sind.

Solange die Beine in den nassen Schaftstiefeln aushalten und mich samt einer beträchtlichen Last tragen mußten, erfüllten sie schlecht und recht ihre Pflicht. Jetzt, da ich ihnen Gutes tun kann, sie mit fri› schen Strümpfen und leichten Sandalen bekleidet habe, die Hosen 187

hochgerollt sind und weiße Binden den Schmutz abhalten, machen sie üble Streiche: sie sind auf das Doppelte ihres gewöhnlichen Urn- fanges angeschwollen, haben stellenweise die Farbe einer Trinker- nase angenommen und schmerzen. Es wird nichts helfen, ich muß sie dem Doktor morgen noch einmal zeigen.

Man ist sehr freundlich zu mir. Ich erfuhr, daß ich zum Zugtrupp kommandiert sei, das heißt, einer der drei Melder des Zugführers geworden bin. Dieser Posten ist in Rußland begehrt, denn meist findet sich für den Zugführer und seine Leute doch eine Heuhütte, während die Gruppen in den Erdlöchern liegen.

SCHLECHTE Füsse TRAGEN NACH HAUsE

I8. September 41. Wir kamen gestern, nachdem ich Dir während eines längeren Halts geschrieben hatte, noch um ein gutes Stück voran und befanden uns in einem Dorf unmittelbar vor Ostrow, als am späten Nachmittag befohlen wurde, abzusitzen. Ich mußte mir vom Wagen herunterhelfen lassen, die Beine streikten. Die goo m zum Sanitätswagen fielen mir schwer. Der Arzt wickelte die Binden ab, besah sich die Geschichte, drückte ein bißchen daran herum, wobei Dellen in den Schwellungen zurückblieben, und entschied: »Ins Lazarett! Auf dem Marsch wird das nicht wieder gut.« Ich schlich zur Kompanie zurück, packte meine private Habe in zwei Wäschebeutel, die ich mit einem Riemen über die Schulter hing, und meldete mich beim Chef und beim Zugführer ab. Sie wünschten mir gute Besserung, und der Oberleutnant sagte: »Kommen Sie uns bald nach!<< - ››Wohin?« fragte ich geradezu und bekam ebenso bündig zur Antwort: »Nach Smolensk!« Bei der al- ten Gruppe gab es noch ein Händeschütteln, dann verschwand ich in der Dunkelheit, meine Packen über der linken Schulter, die ge- rollte Decke samt Russenjacke unter dem rechten Arm.

Der Wagen mit dem roten Kreuz stand schon startbereit auf der Straße, und der Bataillonsarzt erklärte, er wolle selbst mitkommen und mich beim Luftwaffenlazarett abliefern, es sei das einzige in der Stadt.

Nach einigen Kilometern wies uns ein beleuchtetes Schild an, nach 188

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links einzubiegen. Wir hielten vor einem tempelartigen Gebäude.

Säulen standen vor dem Haupteingang und eine Freitreppe führte hinauf. Es sah großartig aus. Ich setzte mich auf eine der Stufen, in- des der Arzt ging, um meine Aufnahme zu erwirken. Dann fiel aus einer auf dem linken Flügel sich öffnenden Tür Licht heraus und eine Stimme rief, ich solle hereinkommen. Ich wurde angewiesen, mich im Flur auf eine Bank zu setzen. Ein Mädchen kam aus einer Tür, nicht in Schwesterntracht, sondern in einem kurzen modi- schen Rock und mit einer Silberkette um den Hals. Als es mich be- trachtete, sah ich mich plötzlich selber, so verdreckt und verkom- men wie ich War. Es trat in die Aufnahmestation, ließ die Tür offen- stehen, begann zu telefonieren, mit halben Sätzen und Ausrufen, die sich um eine Verabredung drehten. Das alles kam mir sehr über- raschend, und ich war ganz zufrieden, daß nachher Fieber festge- stellt wurde. Es erklärte, warum mir dieser elektrisch beleuchtete Flur und dieses Mädchen einen so tiefen Eindruck gemacht hatten.

Immerhin war es eine radikale Veränderung meiner Lage.

Ein Arzt kam. Ich stand auf und grüßte. Ein total iíbermüdeter Sol- dat in einer abgetragenen Feldbluse sagte zu dem Arzt im weißen Mantel: Das ist der Mann. Erst an der Stimme erkannte ich, daß ich unsern eigenen Bataillonsarzt vor mir hatte, der mich dem Stabsarzt hiermit übergab. Dieser sagte: Erst mal in die Badewanne! Im dampfenden Baderaum unter der Dusche lief der Schmutz in dun- klen Bächen an mir herunter.

Lm weichen Bett schlief ich miserabel, bekam Kopfweh. Seit dem zz. ]uni habe ich jede Nacht unter freiem Himmel verbracht.

19. September 41. ]etzt ist der nächste Tag. Ein Regensturm fegt ums Haus. Während das Bett gemacht wurde, ging ich ans Fenster, blickte auf eine Terrasse hinaus, auf deren aufgeris- senem Zementboden sich kleine Seen gebildet hatten, die der Sturm wellte. Ich dachte, daß ich eigentlich noch in einem Erdloch liegen müßte, und wie ich, wenn ich darin läge, Sturm und Regen gelassen hinnähme, während mich hier, in der Wärme stehend, mit einem Schlafanzug des Lazaretts bekleidet, die Scheiben zwischen mir und dem Wetter, allein der Anblick der windgepeitschten Regenpfiítzen schaudern machte bei der Vorstellung, ich wäre diesem Wetter aus- gesetzt. Die innere Rüstung ist eine Frage der konkreten Umstände, in denen man sich befindet. Mitleid ist die Adaption von Leiden, die der Mitleidende stärker empfindet als der Leidende. Ich glaube, das 189


ist die Ursache, daß der Leidende Mitleid als Peinlichkeit empfin- det.

Das Wetter erlebte ich hinter der Scheibe wie einen Film. ]e mehr wir an Ereignissen teilhaben werden durch verbalen oder optischen Transport, abgetrennt von der realen Situation, desto verlogener wird unser Leben Werden, desto künstlicher unsere Teilnahme schließlich sogar an konkreten Erlebnissen. Die Aufnahmekapazi- tät wird durch indirekten Realitäts-Konsum ausgeschöpft.

Meine innere Nichtteilnahme an diesem Krieg, d. h. das In-der-Si- tuation-Sein ohne sich ihr auszuliefern, erhöht hingegen die Auf- nahmefähigkeit; meine Wahrnehmung ist um soviel schärfer, als mich das Wahrgenommene nicht berührt.

19. Septemben; 1 [E.K.-Sch.]. Soll ich Dir wirklich auf-all das ant- worten, was Du an meiner Reaktion aufdie Augustsache nicht ver- stehst? Ach nein/ Der Schlüssel ist, dafl ich mir eine sehr schlimme Zeitfiir Dich angebrochen vorstellen mußte. Ich glaube, daß Du sie Dir in ihrem Grundmuster doch nicht richtig fuorstellst. Menschen hätten über Dich Macht gehabt, denen gegenuber sich »gutführen-« einem nicht hündischen Gerniit nicht möglich gewesen ware. Es ist mal wieder ganz E. K., daß Du Dir uber das Unausweichliche in den 6 Tagen des Warıens nicht wirklich klar gewesen bist.

Trotz Verlegung seiner Vorlesung war Rothe nicht fertig geworden und las nur alte Sachen: die Weimarer Rede, eine Novelle ››Berlin« und den Anfang der ››Zinrisoldaten«. Letzteres sehr hübsch, die No- velle gar nicht gut. Die Rede ungekurzt. Ich fand sie nicht so schlimm wie Du. Gliinzend in der Formulierung oft – uberhaupt hat er vielmehr kritische als dichterische Fähigkeiten. Aber er meint ja, einepolitische Rede gehalten zu haben, kritisch auch im politischen Sinn, und das wurde jeder merken, es merkt aber doch eigentlich keiner und es ist ganz wirkungslos, denn es bläst ja kein schöpferi- scher Wind darin. Er kritisiert nicht anders wie Blendinger [damals Leiter der »Schloßschule Salem«] die jungens, wenn er sagt, sie sol- len die Hände aus den Taschen nehmen.

zo. September 41. Heute früh hat eine gründliche Untersuchung stattgefunden. Der Arzt meinte, er könne die Entzündung der Beine behandeln, aber dann müßte ich zu einem Orthopäden. Die Entzündungen kämen von einer Überanstrengung der Füße. Er wisse nicht, wo die nächste orthopädische Behandlungsstation sei, 190

in einigen Tagen werde er mich ins Kriegslazarett nach Pleskau schicken. Er fragte, wie ich mit diesen Füßen zur Infanterie käme.

Mir lag nichts daran, ihm den ganzen Roman zu erzählen, und ich sagte nur, eigentlich sei ich Fernsprecher, aber man habe Leute bei der Infanterie gebraucht.

25. September 41, Pleskau. Aus den blauen Wassern hebt sich der von mittelalterlichen Befestigungswerken umgürtete Felsen und trägt auf seinem Rücken die Kathedrale mit dem abseits stehenden Glockenturm. Mächtig und schmucklos steigen ihre Mauern auf quadratischem Grundriß empor und aus dem Dach wachsen fünf Zwiebeltürme, um deren größten sich die übrigen ohne erkennbare Ordnung wie Kücken um die Henne scharen. Über eine gedeckte Außentreppe betrat ich den Bau. Im Inneren streben vier rechtek- kige Pfeiler von solcher Stärke zur Decke, daß der Raum durch sie in senkrechte Schächte zerfällt. Drei Wände zeigen die natürliche Farbe des Steines und sind kahl, Während die vierte, dem Eingang gegenüberliegend, vom Boden bis zur Decke rnit acht oder zehn aufeinandergetürmten Reihen überlebensgroßer, auf Goldgrund gemalter Heiligenbilder bedeckt ist.

Ich bin gestern nachmittag aus Ostrow mit einem Lastwagen hier angekommen, zeigte meine Papiere im Kriegslazarett und bekam einen Vermerk darauf, daß hier eine Behandlung nicht möglich sei.

Damit wurde ich an die Krankensammelstelle verwiesen, die in ei- ner ehemaligen Volksschule untergebracht ist. Dort habe ich die Nacht verbracht. Ich stand gegen Abend eine halbe Stunde beim Haupteingang. Sanitatswagen hinter Sanitätswagen kamen ange« rollt und brachten die Verwundeten von der Leningrader Front.

Manche hatten drei und vier Transporttage hinter sich. Bahre um Bahre wurde ins Haus getragen. Der Saal, in dem ich anfänglich fast allein gewesen war, füllte sich. Einfache Eisenbetten mit Strohsäk- ken standen in doppelten Reihen an den Wänden, von der Decke hing eine trüb brennende Birne herab. Im Flur stand ein schlechter russischer Lautsprecher und übertrug krächzend deutsche Unter- haltungsmusik. Als ››Am Abend auf der Heide« verklang, sagte ei- ner der neu Angekommenen in die Stille der Sendepause hinein: Hier ist es wie irn Paradies.

27. September 41. Wir fuhren um rz Uhr von Pleskau mit zwei Bus- sen (rot~gelb angestrichen) der Dünaburger Straßenverkehrsgesell- schaft über Ostrow und Rositten nach Dünaburg. Am Steuer saß 191


ein lettischer Chauffeur, der ausgezeichnet fuhr. Bis abends legten wir 3oo km zurück. Für Verwundete – an Armen und Beinen – war die Fahrt schwer. Doch waren alle derart stimuliert von der Vorstel- lung, vielleicht nach Hause und auf jeden Fall in ein richtiges Bett zu kommen, daß sie die Schmerzen kaum fühlten. Zwischen Ostrow und Rositten passierten wir die jetzt wieder in Kraft gesetzte letti- sche Grenze, durchführen eine halbfertige Bunkerlinie der Russen, die jetzt verfällt. Das Land veränderte sich hinter der Grenze schlag- artig, hübsche Dörfer, kein löcheriges Dach, kein schiefer Zaun, Herden auf den Weiden. Wir benutzten die Fernverbindungsstra- ße, die in Leningrad endet. Arbeitsdienst, deutsche Zivil-Firmen, Gefangene, Russen und Polen arbeiteten überall an der Strecke, die sich bereits in gutem Zustand befand. Man will mit dieser Ader Le- ningrad an”s Reich anschließen.


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