11. Würde Vom Ringen mit der menschlichen Unvollkommenheit



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(14) Gleichursprünglichkeit von Menschheit und Würde. Die Anerkennung einer universal geltenden Würde also ist eine Errungenschaft der jüngsten Moderne. Dies gilt allerdings lediglich im Hinblick auf ihre praktische Durchsetzung, nicht jedoch im Hinblick auf ihre theoretische Geltung. Denn diese lässt sich letztlich zurückführen auf die Selbstentdeckung, ja Selbstschöpfung des Menschen als einer eigenen Gattung innerhalb seiner natürlichen Umwelt.18 Mit diesem Akt der Selbstentdeckung und Selbstschöpfung ist der Mensch aus der Eigendynamik der natürlichen Evolution heraus- und hat den Weg einer nach seinen eigenen Regeln ablaufenden Geschichte angetreten. Die Faktizität von deren Verlauf ist zwar bis heute maßgeblich mitbestimmt und beschränkt gewesen durch gruppenegoistische, nepotistische, nationalistische und andere partikularistische Verkürzungen und Verweigerungen der Anerkennung einer universalen Menschheitlichkeit.

Die Vision einer universal geltenden Würde war jedoch in der Entdeckung von Seinesgleichen im menschlichen Gegenüber von vornherein im Keim angelegt und somit gleichursprünglich mit ihr. Gleichwohl darf nicht übersehen werden: Die Geschichte jener universalen praktischen Durchsetzung dieser Geltung der Würde ist alles andere als eine pure Erfolgsgeschichte. Ihr Weg ist vielmehr – bis auf den heutigen Tag – gepflastert mit Hekatomben von Opfern, bei denen ungezählte unbeschreibliche „Antastungen ihrer Würde“ stattgehabt haben. Ein solches Plädoyer für eine optimistische Sicht der Dinge kommt folglich auch nicht daran vorbei, sich die innere Widersprüchlichkeit des Würde-Begriffs genauer anzusehen, auf die wir unter dem Stichwort Januskopf eben schon hingewiesen haben.



(15) Quasi-aristokratische Überlegenheit. Würde entsteht maßgeblich aus der Aura eines Adelig-Herausgehobenen und -Unnahbaren. Ja, sie strahlt etwas Gravitätisch-Majestätisches und einen Hauch von Exzellenz aus. Und doch ist sie nicht zugleich an historische Größe gebunden oder gar an die Fülle der Macht. Sie erhält ihr Profil nicht zuletzt aus dem Gegenbild von Niedrigkeit, Ordinarität, Mediokrität, von Menschlich-Allzumenschlichem und alltäglicher Unbedeutendheit. Würde strahlt eine Art von Unberührbarkeit aus. Aber gerade nicht im Sinne von Aussätzigkeit bzw. von Inferiorität wie bei der indischen Kaste der Unberührbaren. Sondern im Sinne von Exzellenz, Unantastbarkeit und Unbestrittenheit. Diese Assoziationen bilden die eine Seite, den einen Pol jener Janusköpfigkeit.

(16) Schutz- und Bannzauber für die Schwachen. Es mutet an wie eine Paradoxie, dass Artikel 1,1 GG das Gegenteil im Blick hat: den Schutz derer, welche zu wenig oder gar nichts aufzubieten haben zu ihrer eigenen Selbstbehauptung und zur Selbsterzeugung des eben gezeichneten Bildes von Würde. Die demonstrative Beschwörung der Unantastbarkeit von Würde meint den Schutz gerade jener, deren Würde faktisch notorisch gefährdet ist, weil sie eben nicht eingehüllt sind in eine Aura der Unverletzlichkeit. Der GG-Artikel, der, wie wir bereits gesehen haben, alles andere als eine empirische Feststellung meint, normiert eine Schutz-Klausel, eine Art von Bann-Zauber, mit denen die allgegenwärtige Gefährdung der Würde der Schwachen abgewendet werden soll. Sie zielt, wie jegliches Recht, darauf ab, die Schwächeren der Gesellschaft gegen das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ zu schützen, indem von allen sozialen und individuellen Unterschieden der Gesellschaftsmitglieder abgesehen wird. Denn diese Unterschiede können in der Regel zum Nachteil von – eben – Benachteiligten ausfallen oder ausgelegt werden.19

Diese Schutzfunktion garantiert sogar noch mehr als die sogenannte Hilfe zur Selbsthilfe, auf die sozial- und wohlfahrtsstaatliches Handeln im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, ebenfalls mit dem Ziel des Würde-Schutzes, stets hinauslaufen sollte. Sie meint somit gerade diejenigen, die Jesus in den Seligpreisungen seiner Bergpredigt anspricht. Nur dass sich die – ja alles andere als unmäßigen – Verheißungen für sie nicht erst im Reich Gottes erfüllen sollen, sondern bereits im Hier und Jetzt. Jene Schutzfunktion hält ihren Schirm sogar und gerade auch über die, alleingelassen, gänzlich Hilflosen in ihrer höchsten Verletzlichkeit. Diese Assoziationen bilden die andere Seite, den anderen Pol jener Janusköpfigkeit.



(17) Gnade, Haltung und Eigenleistung. Würde ist zwar, wie gesagt, nicht gebunden an historische Größe. Sie entsteht auch nicht als Honorierung von Verdienstlichkeit. Denn sie steht zumindest in Konkurrenz, wenn nicht gar im Widerstreit zu persönlicher Leistung. Insofern ist sie eine irdische Verwandte der göttlichen Gnade, auf die Luther alles gesetzt hat für die Rechtfertigung des Menschen. Ein Geschenk. Aber sie besteht trotzdem auch in der Ausstrahlung einer wenn auch unerworbenen, gleichsam angeborenen oder verliehenen Erscheinung von Größe. Und sie zehrt von der Attraktivität von Selbstzweckhaftigkeit und Großzügigkeit, ja Freigebigkeit, die sich geradezu indigniert dagegen verwahrt, sich in die Niederungen eines unkultivierten materiellen Begehrens herabziehen zu lassen.

Durchaus diskussionswürdig bleibt dabei allerdings, ob Würde tatsächlich unbedingt berührt, ja kontaminiert wird dadurch, dass sie sich mit Geld und materiellen Interessen einlässt. Und wenn diese Annahme nicht unbedingt gälte, sondern oft nur Ausdruck eines verbreiteten antikapitalistisch-kulturkritischen Ressentiments wäre: Wo verliefe die Scheidelinie? Sie wird zwar von der bürgerlichen Gesellschaft eingefordert, postuliert und gewährleistet, aber nicht geschaffen. Und sie kann durch bestimmte Eigenarten dieser Gesellschaftsform sogar strukturell gefährdet werden. Jedenfalls zeigt Würde einen eher aristokratischen denn bürgerlichen Zug und Habitus.



Würde ist also primär Ausdruck einer überlegenen Haltung. Aber sie ist doch auch Ergebnis einer Eigen-Leistung bei ihrer Erarbeitung sowie bei ihrer Verteidigung gegenüber allfälligen widrigen Umständen, gegenüber Versuchungen und Bedrängungen von innen und von außen. Dies zeigt, wie revolutionär der Anspruch auf Universalisierung dieses Vermögens ist, das verfassungsmäßig verbindliche Versprechen auf allgemeinen Zugang zu diesem Vermögen buchstäblich für jedermann, also auch für Kreti und Pleti. Denn jene Haltung und Eigenleistung ersetzen nicht etwa die verfassungsmäßige Würde-Garantie. Sie ergänzen und erleichtern vielmehr deren Verwirklichung, indem sie deren Abwehrbemühungen im Sinne der Schwächeren gleichsam von der anderen Seite der Stärkeren her entgegenkommen und zugleich den Schwächeren Wege aufzeigen, auf welchen sie auch selbst an der Verteidigung ihrer Würde mitwirken können.

4. Die Wurzeln für die Universalisierung des Würde-Anspruchs
(18) Revolution. Der Anspruch auf Universalisierung der Würde bedeutet einen revolutionären Umbruch im Denken des Menschen über sich selbst. Er geht zurück auf das christliche Liebes- und Entfeindungs-Gebot, wie es Jesus seiner Bergpredigt verkündet hat. Diese Revolution zieht sich wie ein scharfer Bruch durch die Bibel selbst hindurch – und verbindet zugleich die Botschaften des Alten und des Neuen Testaments zu einer Gesamterzählung. Denn sie wird erst möglich durch ein schneidend scharfes Dementi: Jesus revidiert den zornigen, parteiischen, rächenden Gott des Alten Testaments. Nach einer Interpretation von Jack Miles beglaubigt Gott mit Jesu universalem Liebesgebot seine Kündigung des partikularen, exklusiven und gewaltbewehrt nach innen und außen durchgesetzten Bundes mit Israel – und zwar aus der Not geboren angesichts der übermächtigen Bedrohung durch den römischen Imperialismus, gegen den er die „Kriegskosten“ für die Verteidigung seines auserwählten Volkes nicht mehr zu tragen bereit oder in der Lage sei.20

(19) Paulus als Begründer des Universalismus. Die christliche Liebes- und Friedensbotschaft wäre nach dieser Lesart nicht die Verkündigung eines theologisch autonomen „Neuen Testaments“.21 Gott unterschriebe vielmehr in Gestalt seines Sohnes eine Kapitulationsurkunde. Sie wäre das Eingeständnis und die Folgerung aus einer Niederlage. Er hisste die weiße Fahne und erklärte sich für alle Zukunft zum Nichtkombattanten in res politicis. Die Legitimierung eines universalen Würde-Anspruchs wurde also möglich, nachdem der alttestamentarische Gott seine exklusive Bindung an ein („sein“) Volk gelöst und neutestamentarisch in der Gestalt und Botschaft Jesu auf die Menschheit ausgeweitet hat.22 In ebendiese Richtung weist auch die Paulus-Deutung des französischen Philosophen Alain Badiou in seinem Buch „Paulus – Die Begründung des Universalismus“: „Und genau deshalb, weil er die griechischen wie die jüdischen Ausschließungsmechanismen beseitigt, ist Paulus für Badiou der Begründer des Universalismus.“23

(20) Mythos des Planeten versus Mythen beschränkter Gruppen. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell spricht statt von Universalismus von einem „Mythos des Planeten“ bzw. von der Zukunftsvision einer „planetaren Gesellschaft“: „Wir brauchen Mythen, die den Einzelnen nicht mit seiner beschränkten Gruppe identifizieren, sondern mit dem Planeten.“24 Jener christliche Rückzug von der Front der religiösen Verteidigung partikularer Interessen also bleibt, unabhängig von jenem möglicherweise heroisch-unheroischen historischen Hintergrund, ein wichtiger Schritt, ein Aufbruchssignal, ja eine Zäsur für die weitere Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Fortgeschrieben wurde er in den universalistischen Ideen des Humanismus, der Reformation und der Philosophie der Aufklärung, in den Menschenrechts-Dokumenten der Amerikanischen und Französischen Revolution sowie der Vereinten Nationen, gipfelnd in der unübertrefflichen Schlichtheit von Art. 1,1 GG. Aber auch mit diesen Fanfarenstößen zur Feier der Geburt der universell anerkannten Würde des Menschen sind der Konfliktstoff, der in ihr schlummert, und die Sprengkraft, die er in der globalen Gesellschaft entfaltet, natürlich keineswegs aufgehoben. Wenden wir uns daher weiteren schillernden Facetten unseres Problemfeldes zu.

5. Nachbar- und Gegenbegriffe
(21) Familienähnlichkeiten. Die eben zitierten Adjektive verweisen darauf, dass der Sinnraum des Wortes „Würde“ noch deutlicher bestimmt werden muss, indem man ihn kontrastiert mit Nachbar- bzw. mit Gegen-Begriffen. Zunächst eine einfache Aufzählung einiger verwandter Begriffe bzw. Assoziationen, welche durch das Wort „Würde“ ausgelöst werden. Deren Familienähnlichkeiten gestalten den Sinnraum von Würde nach innen hin inhaltlich aus und füllen ihn mit Leben: Ehre, Aura, Nimbus, Klugheit, Wahrhaftigkeit, Weisheit, Besonnenheit, Mäßigung, Augenmaß, zwischenmenschlicher und diplomatisch-politischer Verkehr zwischen Institutionen auf Augenhöhe in gegenseitigem Respekt, Verdienst, Begabung, Gerechtigkeit, Gradlinigkeit, Prinzipienfestigkeit, Beharrlichkeit, Unbestechlichkeit, Seelenadel, zivilisierter Stil, Großmut, Erhabenheit, Überlegenheit, Stolz, stilles Heldentum, Furchtlosigkeit, Tapferkeit, Distanz, stoische Unerschütterlichkeit, Gelassenheit, Selbstbeherrschung, die Unbeirrbarkeit eines Trotzdem-und-Alledem beim Stehen zu seiner gerechten Sache, Gefasstheit oder Fassung, Demut, Haltung, Verantwortung, Autorität, Autonomie, Unabhängigkeit, Souveränität.

(22) Kontrastpaare. Die Demut als erstrebenswerte Haltung und Eigenleistung wird in ihr Gegenteil verkehrt durch Demütigung, also eine gewaltsam von außen aufgezwungene Entwürdigung, würdeverletzende Schmach. Zur Sinnfamilie gehört ferner die Würdigung, d.h. die angemessene Darstellung und respektvolle Anerkennung einer herausragenden Person oder Leistung: ein Ausdruck von Wertschätzung, also das Gegenteil von Herabwürdigung im Sinne von Geringschätzung und Abschätzigkeit. Zur Sinnfamilie gehört nicht zuletzt auch ein Mindestmaß an Wohlstand als eine Art von Versicherung gegen die Entwürdigung durch Elend, Verelendung, menschenunwürdige soziale Zustände.

Diese Familienähnlichkeiten decken sich zwar nicht mit Würde. Aber sie umreißen den Bedeutungshof, den die Würde um sich hat und der ihre Bedeutung wie ihre Außenbezüge und fließenden Außengrenzen markiert. Durch ihre partielle Ähnlichkeit wie durch ihre partielle Unterschiedlichkeit schärfen sie das Profil unseres Kernbegriffes. Sie sollten folglich nicht als Beleg für Wittgensteins „Familienähnlichkeiten“ gelesen werden. Denn dieses tendiert zu der Annahme, die Sprache löse durch den dominoartigen Übergang von einem zum anderen die Grenzen zwischen den Sinnräumen der Begriffe eher auf, als dass sie sie eindeutiger zöge. Würde unterscheidet sich hier vor allem dadurch, dass sie durch bemühtes Handeln nicht primär erworben, sondern nur allenfalls verteidigt werden kann.



(23) Gegenbegriffe der selbstverschuldeten Schwäche. Nun also eine einfache Aufzählung einiger entgegenstehender Begriffe, welche den Sinnraum von Würde von außen her eingrenzen: Nichtswürdigkeit = Unbedeutendheit, Unwürdigkeit = bedauernswerte Kläglichkeit, Würdelosigkeit = moralische Fragwürdigkeit, wahllos-vordergründige Konsumsucht in der Spaßgesellschaft, unzivilisierter Stil, Charakterlosigkeit, Käuflichkeit, Opportunismus, Selbst-Entwürdigung durch Verrat an selbstgesetzten Prinzipien wie z.B. beim Doping im Sport, öffentliche Selbstentblößung, Drückebergerei, Unterwürfigkeit, Kotau vor der Macht, Kollaboration mit dem Unterdrücker, Speichelleckerei, Leisetreterei, Wankelmut, Kadavergehorsam, Heuchelei, Feigheit in Verbindung mit Larmoyanz angesichts der allfälligen natürlichen und gesellschaftlichen Gefährdungen der menschlichen Existenz und der menschlichen Schwäche im Umgang damit, ja Resignation vor der vermeintlichen Übermacht eingebildeter eigener Schwäche, Fatalismus, Indifferenz.

(24) Gegenbegriffe der eingebildeten Stärke. Scheinbar ganz anders als diese „schwachen“ gebärden sich „starke“ Gegenbegriffe zur Würde: draufgängerisches Heldentum, Leichtsinnigkeit, hybride Selbstüberschätzung, Aufschneiderei, Prahlerei, Maulheldentum, Ruhmsucht, Hochmut, Überheblichkeit, Diskriminierung, Erniedrigung, Unbeherrschtheit, Cholerik, Zorn, Enthemmung, Gier, Neid, Ressentiment, hysterische Schwarzmalerei, Rachsucht, Niedertracht, Intrigantentum, Rücksichts-, Skrupel- und Gnadenlosigkeit, Fanatismus, entfesseltes Berserkertum.

(25) Verächtlichkeit: Das Verbindende beider Gruppen von Gegenbegriffen. Die Gegenbegriffe umfassen also alle Formen mangelnden Selbstbewusstseins und Selbstbehauptungswillens, ja der Selbstdemütigung und Selbstaufgabe gegenüber einer tatsächlichen oder eingebildeten Übermacht äußerer Umstände; bzw. umgekehrt alle Formen unbedachten, verantwortungslosen und unkontrollierten oder gar gewaltsamen Abenteurertums – einschließlich einer Haltung, welche sich gegen drohendes oder vermutetes Unrecht reflexartig in den Kampf stürzt und sich damit fälschlich für heroisch hält, statt Kräfteverhältnisse und Umstände kühl abzuwägen, einen aussichtslosen Kampfes durch Aushalten von Unrecht, gewaltlosen Widerstand und diplomatische Geduld zu ersetzen und so eine Vielzahl von sinnlosen Opfern zu vermeiden. Die Vielzahl dieser Gegenbegriffe können trotz ihrer äußerst heterogenen Vielfalt zusammengefasst werden unter einem einzigen pejorativen Sammelnamen: Verächtlichkeit. In seinem grellen Licht wird das Profil der Würde noch viel schärfer, als es durch die Benennung allein ihrer positiv formulierten Eigenschaften möglich wäre: Sie ragt heraus wie ein Fels in der Brandung, als ein ruhender Pol der Überlegenheit und Unerschütterlichkeit innerhalb eines hektischen Gewimmels unterschiedlichster Formen von Würdelosigkeit. Diese sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung vollzieht sich nach der scheinbar paradoxen Logik von Hochmut und Demut, wie sie treffend zusammengefasst ist in Jesu Memento „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden“, und vice versa.

(26) Beschämung. Es gibt in unserem Sinnkontext sogar eine scheinbar paradoxe Form des Verhaltens. Sie stellt sich vorgeblich und demonstrativ auf die Seite dieser Gegenbegriffe, tatsächlich aber in den Dienst der Verteidigung der Würde. Es ist ein bisweilen listiges, im Extremfall verzweifeltes letztes, ein schwejksches Mittel zur Selbstverteidigung des Schwächeren, des potentiellen Opfers gegen seinen Peiniger. Es ist das Mittel der Beschämung. Der Versuch, durch demonstratives Vorzeigen der eigenen Blöße, seiner vermeintlichen Nichtswürdigkeit und des daraus entstehenden eklatanten Machtgefälles den Überlegenen so zu beschämen, dass er auf den gewaltsamen Einsatz seiner überlegenen Macht verzichtet.

Zur Veranschaulichung nur ein Beispiel: Das Neue Testament berichtet in der Geschichte von der Hure beim Fest in Simons Haus (Luk. 7, 36-50), wie Jesus öffentlich die unerkannte Tugend der gefallenen Frau feiert und damit die konventionelle Entrüstung zurückweist, mit welcher der Gastgeber sich über die Unmoral dieser Frau erhebt. Jack Miles deutet diese Episode so: „Sie verhält sich schamlos, um jemanden zu beschämen. Sie erniedrigt sich, um einen anderen zu demütigen. Von Vergeltung kann man bei diesen Verhaltensweisen ebenso wenig sprechen wie von schlichter Kapitulation. Was Jesus entdeckt hat – und die Entdeckung soll im Abendland noch eine lange und explosive Geschichte haben –, ist die Macht des Opfers gegenüber dem Viktimisierer.“25 Jesus unterstreicht diese Botschaft der Episode, indem er deren moralische Logik mit mehreren Gleichnissen verdeutlicht. Demnach würde der sozial Unterlegene, wie die Hure in Simons Haus, „indem er die eigene Würde abstreift, auch den Gegner seiner Würde berauben“26.



Man kann hierin die Begründung der historischen Tradition des gewaltlosen Widerstands sehen. Jesus sucht zur Erhaltung der Würde der Schwachen einen dritten Weg zwischen selbstzerstörerischer Revolte und würdeloser Kollaboration. Dieses Mittel der gewaltlosen Selbstverteidigung hat sich seither als jeweils letztlich meist erfolgreich erwiesen. Aber es bleibt in gewaltsam zugespitzten Konfliktsituationen gleichwohl kurzfristig stets ein riskantes und deshalb – eben – verzweifeltes letztes Mittel: Wenn man sich, wie in der genannten Episode, „Szenen vorstellen kann, in denen das Opfer nichts Böses tut, keinen Schlag austeilt, keine direkte Beleidigung äußert und dennoch gewinnt, dann kann man sich auch Gegenszenen vorstellen, in denen das Opfer verliert, weil in der Seele des Viktimisierers nicht ein Funken Anstand ist“27. Auch dies ist in zahllosen berühmt-berüchtigten und noch mehr anonymen historischen Beispielen belegt. Denn bekanntlich „bedarf es nicht viel, um einen kleinlichen Tyrannen zu reizen“28. Im Extremfall wird dem Opfer selbst noch diese allerletzte Möglichkeit genommen, einen Rest seiner Würde durch Beschämung seiner Peiniger zu verteidigen, wie die monströsesten Verbrecher der Geschichte es in ihren KZs von 1942 bis 1945 bei der „Endlösung der Judenfrage“ vollbrachten.

6. Teilhabe an der Aura der Heiligkeit
(27) Ernst und Heiterkeit des Lebens. Würde hat teil an der Aura der Heiligkeit. Damit ist sie aber nach herrschendem Verständnis zugleich fest eingebunden in den Ernst des Lebens. Sie fordert und erzeugt eine – bisweilen vielleicht sogar erdrückende? – Ernsthaftigkeit, welche kaum Raum zu lassen scheint für die heitere, ja komische, die unterhaltsame Seite, die nicht minder zur Fülle des menschlichen Lebens gehört. Würde strahlt wegen ihrer Geste ernsthafter Überlegenheit etwas Patriarchalisch-Vertrauenerweckendes aus. Aber wegen ihrer humorlosen Ernsthaftigkeit zugleich auch etwas Penetrant-Unerbittliches.29 Dieses Schicksal teilt sie mit dem religiösen Glauben, zumindest in den monotheistischen Religionen. Denn auch das Streben nach Eindeutigkeit von Glaubensbotschaften und die totalisierende Tendenz religiösen Engagements scheinen sich schwer zu vertragen mit der gewollten Mehrdeutigkeit des ironisch-distanzierten Spiels.30

(28) Die Figuren des Clowns, Hofnarren und Kabarettisten. Ist Würde folglich nur als humorlose möglich? Es ist eine diskussions-würdige Frage, ob dies tatsächlich unvermeidlich so sein muss. Die Gestalt des Clowns im Zirkus, entgegen der Banalisierung dieser Figur im alltäglichen Sprachgebrauch, verkörpert auf anrührende Weise die Ambivalenz der Würde des Menschen, wie sie hier beschrieben worden ist. Aber dies gelingt gerade dadurch, dass hinter seinen Clownerien, hinter der lustigen Fassade seines gekonnt notorischen Scheiterns die Melancholie des überspielten Ernstes der menschlichen Existenz spürbar wird. Ähnliches gilt für die Figur des Hofnarren, welche heute ersetzt ist durch die des Kabarettisten.

(29) Ekstase: Feier des schöpferischen Ausnahmezustands. Kann sich Würde also nur in dieser Dreiecksbeziehung über den Ernst mit dem unernsten Spiel verbinden? Sind also z.B. solche Ereignisse, in denen die gravitätische Seite der Würde geradezu vorsätzlich und inszeniert aufgegeben wird – in der Ekstase über herausragende Leistungen in Kunst, Artistik oder Sport, im Karneval, in jeder Art von schöpferischen (nicht-destruktiven!) Ausnahmezuständen – reine Gegenbilder, welche mit der Würde unvereinbar sind? Oder sind sie gerade umgekehrt unverzichtbarer Teil der Würde des Menschen? Joseph Campbell gibt auf diese Frage eine euphemistische Antwort, indem er die Rückkehr, die Wiederaufnahme des aus dem Paradies vertriebenen Menschen in den Garten Eden geradezu als Inbegriff der Würde des Menschen beschwört: „Der Unterschied zwischen dem Alltagsleben und dem Leben in diesen Momenten der Ekstase ist der Unterschied dazwischen, außerhalb oder innerhalb des Gartens zu sein.“31

(30) Heiligkeit, Tabu, Unantastbarkeit. Zu einer wohlverstandenen Würde könnte gehören, dass sie in einem freien Spiel der Möglichkeiten immer aufs Neue ihre Grenzen austestet und neu befestigt (eben: diese auch befestigt!). Sie muss teilhaben können an der tabuisierenden Wirkung von Heiligkeit. Genau dies meint ja die Rede von Unantastbarkeit. Dazu aber scheint es an der Zeit zu sein für eine Revision, für eine Liberalisierung, Generalisierung und Harmonisierung der seit jeher herrschenden Vorstellung von Heiligkeit. Bislang wurde sie als ein Monopol religiöser Güter behandelt. Jene Revision müsste sich als Bewegung von zwei Seiten her vollziehen: von der einen Seite her als Aufhebung dieses Monopols, indem das Tabu über heilige Texte, heilige Menschen und heilige Glaubensinhalte enttotalisiert wird, indem wir uns also zum Beispiel heiligen Texten grundsätzlich so undogmatisch-offen nähern wie historischen Quellen oder literarischen Werken32; von der anderen Seite her als Zuerkennung des Tabus von Heiligkeit auch an herausragende profane Kultur- und Moralgüter, die vielen Menschen heilig sind, indem wir uns also zum Beispiel profanen Werken grundsätzlich so ehrfürchtig nähern wie religiösen Heiligtümern. Beiden also sollte ein besonderer Schutz garantiert werden. Aber beide sollten gleichermaßen der kritischen Nachfrage geöffnet werden.

7. Staat als Institution wohlgeordneter Freiheit
(31) Ein Sinn-Spagat. Immer wieder ist deutlich geworden: Würde hat eine eigentümlich große Spannweite. Sie umfasst einen Spagat. Sie ist eine Art von Brückenbegriff, welcher die Kluft zwischen zwei weit auseinander stehenden Pfeilern überspannt. Dieser Brückenbegriff überträgt gleichsam seine Bedeutungsherkunft vom „Hof der Exzellenz“ auf jene, die Jesus in seinem Gleichnis vom Unkraut und dem Weizen als die „Geringsten unter euch“ tituliert hat: „Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 31-46) Er verbindet ein Recht und eine Haltung, einen moralischen und ästhetischen Begriff mit einem rechtlichen. Er beschwört damit ein unaufhebbares Spannungsfeld, ja eine Quadratur des Kreises. Entsprechend mühselig gestaltet sich die allgemeine und nachhaltige Durchsetzung des Verfassungs-Gebots einer Unantastbarkeit der Würde des Menschen in der globalen politischen Wirklichkeit.

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