Zum zweiten ist der Gerechtigkeit halber festzuhalten, dass ja auch die evangelische Theologie letztlich in ihren praktischen Konsequenzen seit jeher auf eine gleiche Logik hinausläuft. Gleichsam gegen ihren Erzvater Luther, denn dessen apodiktische Postulate sola gratia und sola fide signalisieren ja eigentlich eine Logik der fatalistisch sich ergebenden Untätigkeit für das eigene Heil. Warum also, so darf man fragen, wird der Streit um die Rechtfertigungslehre zwischen den beiden Konfessionen eigentlich so erbittert ausgetragen? Vermutlich aus demselben Grund, aus dem unter den besonders engen Verwandten die Abgrenzungskämpfe immer besonders heftig und unversöhnlich ausfallen.
Zum dritten aber, und das ist hier entscheidend, zeigen die Darlegungen des zitierten Theologen einmal mehr, dass man zu solchen – plausiblen! – Schlussfolgerungen wie er über den ontologischen Status und die praktischen moralischen Konsequenzen der menschlichen Würde auch dann gelangen kann, wenn man den theologischen Umweg über die Berufung auf einen vermeintlichen Willen Gottes gänzlich auslässt und entsprechende Klärungen auf direktem Wege durch zwischenmenschliche Verständigung darüber sucht, was die Menschen aus guten, d.h. vernünftigen Gründen einander schulden, wenn es zwischen ihnen menschengerecht zugehen soll.
Zum vierten schließlich ist festzuhalten, dass seine Aussagen den Befund der vorliegenden Studie im wesentlich bestätigen und bekräftigen. Dies war aber nur dadurch möglich, dass die christliche Lehre zwar nicht per se und nicht allein die Grundpfeiler „unserer“ abendländischen Kultur und Moral begründet hat, aber doch in wesentlichen Teilen ihrer Botschaft mit diesen eher kompatibel ist als manche andere religiöse Lehre. Und es war möglich durch die gut begründete Auslegungsvariante der christlichen Lehre, welche dieser Theologe gewählt hat. Aus anderen religiösen Botschaften hätte sich möglicherweise ein virulentes Konfliktpotential mit einem menschengerechten Würde-Verständnis ergeben können.
(48) In einem kurzen Porträt zur Philosophie des Augustinus deckt zudem Peter Sloterdijk ein weiteres Moment der christlichen Theologie auf, welches verheerend in die Geistes- und Moralgeschichte der folgenden Jahrhunderte hineingewirkt hat: Der schon bei Platon vorformulierte, überzogene göttliche Höchststandard in den Anforderungen an die menschliche Moral hat den Maßstab für die menschliche Moralfähigkeit so überdehnt und überstrapaziert, dass er durch reales menschliches Handeln niemals eingeholt werden kann und folglich unabwendbar stets unterschritten werden muss.
Diese Sicht, die noch selbst das bemühteste menschliche Handeln als Ausdruck notorischer Korruption erscheinen lässt, gab die vermeintliche Begründung für Augustins irreführende und entmutigende Lehre von der menschlichen Erbsünde, welche dann in der fatalismusträchtigen Lehre des Augustinermönches Martin Luther von sola gratia und sola fide ihre logische Fortführung gefunden hat: „Die Gnadenlehre dient dazu, die menschliche Verlorenheit unter Gott dogmatisch zu betreuen. Augustinus hat die Schleusen geöffnet, durch die seither primärmasochistische Energien ins europäische Denken einströmten; er hat – mit einer Radikalität, die ihn geradezu in den Rang einer höheren Gewalt erhob – das menschliche Unheilbare zum Hauptmotiv seiner Wirklichkeitsdeutung erhoben (…) Wo schließlich der nur auf menschliche Weise liebende Mensch die Bühne betritt, mithin der Egoist, der immer sich selber und seine Gelüste meinen muss, dort sieht der spätere Augustinus durchwegs das Stigma des Verlustes und die Spur einer Urschuld, die tiefer reicht als jede Tilgungsmöglichkeit und jedes menschenmögliche Gelingen.“45
In diesem bis heute wirkungsmächtigen theologischen Grundmuster ist eine misanthropische Denkhaltung angelegt, der man tunlichst ein menschengerechteres und doch alles andere als blauäugiges „Plädoyer für eine optimistische Sicht der Dinge“46 entgegenhalten sollte. Etwa in dem Sinne, in welchem Peter Sloterdijk nach und trotz seiner skeptischen Würdigung des schlecht begründeten Harmonismus in der leibnizschen Philosophie feststellt: „Für die künftige Geschichte der Menschheit wird es von Belang sein, ein Prinzip des Optimismus (oder zumindest ein Prinzip des Nicht-Pessimismus) mit nachleibnizschen Mitteln zu regenerieren.“47
(49) Ebenso erstaunlich wie problematisch schließlich sind die mit verlässlicher Regelmäßigkeit wiederkehrenden Versuche, rechts- oder moralphilosophische Begründungen dafür zu suchen, den Menschenrechten – und damit auch ihrem entscheidend tragenden Fundament, der Würde des Menschen – die universelle Allgemeingültigkeit abzusprechen. Statt die konstituierenden Elemente dieser Rechte auf den tatsächlich universell begründbaren und anerkennungsfähigen Kern zu konzentrieren und zu reduzieren, lassen solche Versuche in der Regel diesen Kern im Unbestimmten, um dann umso leichter die allfällig in einer pluralen Welt anzutreffenden Bedenken, Einwände und handfesten Widerstände gegen eine solche universelle Geltung gegen sie ins Feld führen zu können.
Ein Musterbeispiel für dieses ebenso gängige wie irreführende Verfahren bietet die Erörterung eines Strafrechtlers und Rechtsphilosophen: „Aus Anlass des sechzigsten Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Dezember vorigen Jahres äußerte sich die zuständige Hochkommissarin der Vereinten Nationen erwartungsgemäß euphorisch: Kein anderes Dokument der neueren Geschichte habe einen größeren Einfluss auf die Menschheit ausgeübt. Weitaus zurückhaltender fiel die Stellungnahme des UN-Generalsekretärs aus. Die Erklärung sei ein inspirierendes Dokument, das freilich erst dann richtig geehrt werde, wenn seine Grundsätze überall und gegenüber jedermann geachtet würden. (…) Wer es wagt, die politische Leitfunktion der Menschenrechte anzuzweifeln, kann außerhalb von Nordkorea, Kuba oder Syrien kaum erwarten, als Gesprächspartner ernstgenommen zu werden. Ungeschlichtet ist allerdings der Streit um die überzeugendste Deutung der Menschenrechtsidee“; denn die Berufung auf die Begründungsinstanz menschliche Vernunft stehe vor einem Dilemma: Ihre Schwäche bestehe darin, „dass sie den Kern der Menschenrechtsidee, die Überzeugung, dass alle Menschen Inhaber gewisser fundamentaler Rechte sind, nicht adäquat auf den Begriff zu bringen vermag. Rational ist es demnach nämlich allein, mit jenen Individuen eine Verständigung zu suchen, von denen ich zu wissen glaube, dass sie für die Beförderung oder Behinderung meiner Interessen wichtig sind. Dass dies alle Menschen sind, ist höchst unwahrscheinlich. Durch das Begründungsraster dieses Vernunftbegriffs drohen vielmehr gerade jene Personen zu fallen, die, weil sie gesellschaftlich unwichtig sind und deshalb über kein ernstzunehmendes Drohpotential verfügen, den Menschenrechtsschutz besonders dringlich benötigen“; folglich müsse eine die Universalität der Menschenrechte verpflichtend anerkennende Gesellschaft „in spezifischer Weise disponiert sein. Dazu bedarf es eines höchst voraussetzungsreichen kulturellen Arrangements“; ebendies aber sei nur in einem bestimmten, nämlich dem westlichen Typ von Gesellschaften, nicht aber universal zu erwarten; und es gehöre zur politischen Klugheit, „sich der Entstehungsgeschichte der eigenen Evidenzvorstellungen bewusst zu bleiben und die eigene Perspektive nicht mit der des Weltgeistes zu verwechseln (…). Der Westen muss indes mit der Einsicht leben lernen, dass seine Lesart nur eine mögliche, nicht aber die schlechthin zwingende Deutung des Menschenrechtsgedankens darstellt. Dieser Lesart kann aus Gründen widersprochen werden, die hierzulande zwar nicht überzeugend erscheinen mögen, aber auch keineswegs pauschal als Ausdruck von Irrtum oder Heuchelei abgetan werden dürfen.“48 Jedenfalls könne der Anspruch auf Allgemeingültigkeit allein schon deshalb nicht schlüssig begründet werden, weil bereits die „westlichen“ Vernunftkonzepte, aus denen ja nur die Idee universaler Menschenrechte habe hervorgehen können, von immanenten Selbstwidersprüchen durchsetzt seien.
Doch genau diese Argumentation, welche Michael Pawlik hier stellvertretend für eine skeptische Denkschule wiederholt, erweist sich schnell als ein unfruchtbarer, weil realitätsferner bzw. die Erfahrungen der historischen Realität nur selektiv wahrnehmender Sophismus: Denn sobald man die zeitliche Optik der historischen Erfahrung nur weit genug aufzieht, erkennt man, dass es eine solche definitive Entscheidung zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ allenfalls kurzfristig, aber auf lange Sicht gar nicht geben kann. Auch situativ ohnmächtige Kräfte und Strebungen haben sich letztlich stets als unbezwingbar erwiesen – sofern sie sich denn auf die generelle Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung berufen konnten und insofern begründet und berechtigt waren. Es ist also gerade der Nachweis für einen Mangel an Vernunft, wenn man sie aus egoistischen Kurzfristinteressen heraus ignorieren zu können meint. Tatsächlich zeigt der historische Verlauf unbestreitbar, dass die Anerkennung von Menschenrechten ein permanentes Fortschreiten ist, welches zugleich einen Rückgriff auf den Urimpuls zur Herausbildung und Heraushebung der menschlichen Gattung aus ihrer natürlichen Mitwelt auf dem unabschließbaren Weg zu dessen schrittweiser Vollendung bedeutet – also bis hin zu deren wirklich ernstgemeinter und nicht nur rhetorisch vorgeschobener universaler Anerkennung und weltweiter praktischer Verwirklichung.
Diesen Weg dadurch zu dementieren, dass man die allfälligen Hindernisse, Verzögerungen und vorübergehenden Rückschritte für unüberwindlich erklärt und gegen ihn in Stellung bringt, ist intellektuell unredlich und praktisch fatal, weil es die Behinderer dieses Weges mit vermeintlich guten Gründen für ein gutes Gewissen und Weitermachen ausstattet. Peter Sloterdijk hat in seinem knappen Platon-Porträt nachgezeichnet, wie virulent sich schon am Beginn der europäischen Philosophie dieser Impuls zur Befreiung des Denkens aus lokalen Fesseln und zur Ausweitung ins Größere mit letztlich unaufhaltsamer Tendenz zur Universalität Geltung verschafft hat: An Platons Programm der Philosophie als politischer Praxis lasse sich ablesen, „dass die Geburt der Philosophie durch die Heraufkunft einer neuen riskanten und machtgeladenen Weltform bedingt war – wir nennen sie heute die der Stadtkulturen und der Imperien. Diese erzwang eine Neudressur des Menschen in Richtung auf Stadt- und Reichstauglichkeit. Insofern darf man behaupten, dass die klassische Philosophie ein logischer und ethischer Initiationsritus für eine Elite junger Männer – in seltenen Fällen auch für Frauen – gewesen ist: Diese sollten es unter der Anleitung eines fortgeschrittenen Meisters dahin bringen, ihre bisherigen bloßen Familien- und Stammesprägungen zu überwinden zugunsten einer weitblickenden und großgesinnten Staats- und Reichsmenschlichkeit. So ist Philosophie gleich an ihrem Anfang unvermeidlich eine Initiation ins Große, Größere, Größte; sie präsentierte sich als Schule der universalen Synthesis; (…) sie lädt ein zum Umzug in den mächtigsten Neubau: in das Haus des Seins; sie will aus ihren Schülern Bewohner einer logischen Akropolis machen; sie weckt in ihnen den Trieb, überall zu Hause zu sein. Für das Ziel dieses Exerzitiums bietet uns die griechische Tradition den Terminus sophrosyne – Besonnenheit – an, die lateinische den Ausdruck humanitas. (…) Es wäre unbedacht, in den Werten der paideia und der humanitas nur unpolitische Charakterideale zu sehen. Dass von dem Weisen alle Menschen als Verwandte erkannt werden – ist diese Doktrin wirklich nur eine humanitaristische Naivität, geboren aus einer übertriebenen Ausweitung des Familienethos? (…) Jeder Aufstieg zu höheren Standorten fordert aber seinen Preis. Wollte sich der Philosoph als Erzieher für einen noch nicht da gewesenen Typus vernunftgeleiteter Menschen empfehlen, so musste er sich das Recht nehmen, neue Maßstäbe für das Erwachsenwerden in der Stadt und im Reich aufzurichten. (…) Als Dozenten des Erwachsenwerdens unter Stadt- und Reichsbedingungen (und im weiteren Verlauf dann unter Kontinental- und schließlich unter Weltbedingungen, S.G.) wurden die philosophischen Erzieher somit zu Hebammen bei der risikoträchtigen Geburt von mächtigeren, in größere Welten versetzten Menschen. Damit in diesen höheren Geburten nicht Monstren ans Licht kämen, war eine Kunst vonnöten, die neue Machtfülle durch eine neue Besonnenheit auszubalancieren.“49
Unnötig zu sagen, dass dieser historische, dieser säkulare Trend zur universalen Durchsetzung der Menschenrechte nicht zugleich eine Nivellierung und Einebnung oder gar gewaltsame Unterdrückung von kulturellen Unterschieden in dieser globalen, von universalen Menschenrechten geordneten Welt nach sich ziehen muss oder auch nur dürfte. Im Gegenteil: Die Menschenrechte umfassen, kodifizieren und regeln allein einige wenige basale Normen, innerhalb von deren Geltung gerade alle mit ihnen verträglichen kulturellen Unterschiede sich erst wirklich frei entfalten können. Genauer muss es heißen: sich frei entfalten können sollen. Denn selbstverständlich sind Skepsis und Zweifel über die Realisierbarkeit dieses Projekts angebracht. Seine nachhaltige universelle Realität ist ein extrem unwahrscheinliches Ziel. Aber es ist zugleich extrem realistisch, insofern es in nuce bereits an der Wiege der Geburt der Menschheit gestanden hat und damit in deren Geburtsurkunde verbindlich und unkündbar niedergelegt ist.
Wie gesagt: Die pawlikschen Einwände gegen eine universale Geltung der Menschenrechtsidee, hier stellvertretend für verwandte skeptische Einschätzungen erörtert, können durchweg mit belastbaren Gründen ausgeräumt werden. Dies im einzelnen noch weitergehend aufzuzeigen, würde den Rahmen dieser These vollends sprengen. Stattdessen an dieser Stelle nur ein abschließendes Zitat, welches auf die Basis, das tragende Fundament für solche Widerlegungen rekurriert, nämlich auf die Frage der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. Sie ist, wenn auch nicht erfunden, so doch entdeckt und erstmals explizit und umfassend philosophisch begründet worden von Immanuel Kant, nachdem sie strukturell schon in dem jesuanischen Universalismus der neutestamentlichen Theologie angelegt war: „Kant begreift die Stellung des Menschen in der Welt weder als Kosmopolitie im Sinne der antiken Weisheitslehren noch als Geschöpflichkeit unter Gott im Sinne mittelalterlicher Theologie: Der Kantische Mensch ist von Grund auf Gattungsgenosse und insofern Weltbürger. Die Kantische Welt-Polis freilich ist nicht, wie die antike, das Resultat einer Übertragung städtischer Ordnungsvorstellungen auf das Weltall; sie entspringt vielmehr aus der Anwendung des Freiheits- und Selbstbehauptungsgedankens auf die Gesamtheit vernunftfähiger Wesen, also das Menschengeschlecht in jenem universalen oder globalen Umfang, wie es Europäer nach dem Zeitalter der Entdeckungen und Kolonisierungen zu konzipieren genötigt waren.“50
Mithin bilden die Menschenrechte gleichsam die wichtigsten Zugehörigkeitsdokumente jedes Menschen. Sie sind zugleich eine Art von Geburtsurkunde, Vereinssatzung und Mitgliedsausweis für die von beiden Seiten unkündbare Mitgliedschaft jedes einzelnen Menschen in der Gemeinschaft der menschlichen Gattung. Geburtsurkunde, Vereinssatzung und darauf bezogener Mitgliedsausweis garantieren die formalen Rechte und Ansprüche der Zugehörigkeit, unabhängig von den individuellen Eigenschaften, welche die Mitglieder mitbringen, und unabhängig von den sinngebenden Begründungen, welche sie persönlich oder andere dieser Zugehörigkeit geben mögen. In diesem Sinne also basiert Menschenwürde auf unbestreitbarer Zugehörigkeit zur Menschengattung und auf der hegelschen gegenseitigen Anerkennung – und dies selbst schon im vordemokratischen Stadium als Herr und Knecht, als Angehöriger oder Fremder oder wie auch immer Unterschiedener, aber stets als Mensch. Idealtypisch und zugleich humorvoll ausgemalt ist diese Konstellation in der Stellung der Gestalt des Troubadix in dem berühmten kleinen gallischen Dorf: Im allgemeinen strikt davon ausgeschlossen, das Gemeinschaftsleben mit seinen unerträglichen persönlichen Eigenschaften und Künsten zu überfordern, wird seine Zugehörigkeit und persönliche Integrität dennoch von seiner Gemeinschaft mit Zähnen und Klauen gegen jeden Übergriff verteidigt.
(50) Epilog: Die Inauguration eines Weltpräsidenten. Die Welt hat es als starkes Hoffnungszeichen empfunden, dass die Inauguralrede des neuen amerikanischen Präsidenten, ja der gesamte Festakt zu seiner Amtseinführung am 20. Januar 2009 von genau dieser Doppelbotschaft getragen war: Sie stand zuerst unter dem Zeichen der Demut und des Dienens angesichts der in der Krise offensichtlichen Fehlbarkeit von uns Menschen und der begrenzten Macht selbst des mächtigsten Staates der Erde, des Landes der eben nicht unbegrenzten Möglichkeiten. Und sie setzte den Geist seines Wahlkampfslogans „Yes, we can!“, wenn auch hier nicht explizit wiederholt, als zweites Leitwort der Ermutigung dagegen.51 Barack Obama strahlt mit dieser Doppelbotschaft ebenso wie mit seinem persönlichen Habitus genau jene Würde aus, die man in der Regierungszeit seines Amtsvorgängers – ja immer wieder einmal in der amerikanischen Geschichte – so schmerzlich vermisst hatte. Hier sprach ein Weltpräsident, der versprach, die Stärken seines Landes wiederzubeleben, sie aber nicht weiterhin egoistisch und anmaßend zum Hegemonieanspruch über die Welt zu missbrauchen, sondern zur Versöhnung nach innen und außen fruchtbar zu machen: ein „Held des Rückzugs“52, ein Versprechen für die Zukunft, eine jener Führungsgestalten, welche künftig die Weltgesellschaft voraussehbar mehr prägen werden als die „Helden der Attacke“ der Vergangenheit.
Um es in einem verzweifelt-optimistischen Refrain aus Wolf Biermanns Kölner „Ausbürgerungs-Konzert“ von 1976 auszudrücken: „Soooo soll es sein, so soll es sein, so wird es sein!“ Damit die Bäume des Optimismus aber auch nicht in den Himmel wachsen und gleich wieder in hybride Erwartungen umschlagen, muss man umgehend die Skepsis seines geistigen Vaters Bertolt Brecht hinterherrufen – das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens aus der „Dreigroschenoper“: „Ja, mach nur einen Plan …“.53 Und der Verlauf des ersten Amtsjahres des neuen Präsidenten erwies sich dann schnell als eine einzige Kette von Ernüchterungen, da die zitierte Botschaft in weiten Teilen der Welt auf Schwerhörigkeit traf. Um aber Biermanns trotzigen Ruf nach einer optimistischen Sicht der Dinge gleichwohl zu bekräftigen, kann es noch mit einem weiteren Künstlerzitat abgerundet werden: Der Komponist Hans Werner Henze, gefragt, woher er seinen Optimismus nehme angesichts der krisenhaften Weltläufe, sagte kürzlich: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zuendegeht mit einer Welt, die so schön ist und so reich an positiven Werten. Die Menschen sind doch ein anbetungswürdiges Geschlecht, voller Stimmungen und Gefühle, von großer Erfindungsgabe, schönheitsbedürftig. Und was sollte einer wie ich sonst auch machen?“54
Gegenüber allem utopischen Fortschrittsoptimismus und gegenüber allem Niedergangspessimismus ist schließlich das Fazit aus Küenzlers gehaltvoller Studie zur Vision des Neuen Menschen festzuhalten: „Es wird aber für den künftigen Weg von Kultur und Gesellschaft wesentlich sein, welche Auffassungen vom Menschen in ihr bestimmend sein werden; ob etwa die Idee einer innerweltlichen Theophanie des Menschen von neuem ihre Faszination ausüben kann, etwa in Form wissenschaftlich-technischer Programme, welche die Möglichkeiten heutiger Gentechnologie für sich reklamieren; oder ob ein Wissen vom Menschen neu kulturprägend sein kann, das von der innerweltlichen Endlichkeit des Menschen weiß, die ihm erst Würde und Wert verleiht. Dieses Wissen hat die Suche nach dem Neuen Menschen immer wieder auch begleitet und ihr Maß und humanen Inhalt gegeben.“55
10. Schlussbemerkung
Die gesamte Studie dieses Kapitels bezog ihre Argumentation auf den Würde-Anspruch des einzelnen, des individuellen Menschen. Insoweit folgte sie dem Hauptstrom des gängigen Diskurses zu diesem Thema. Kann man aber darüber hinaus vielleicht nicht nur Menschen, sondern auch einer von ihnen betriebenen Tätigkeit bzw. dem dahinterstehenden Sinnsystem Würde zusprechen? Als der französische Fußball-Nationalspieler Thierry Henry im entscheidenden Relegationsspiel zur Qualifikation für die WM-Endrunde 2010 gegen Irland im November 2009 mit einem absichtlichen, aber vom Schiedsrichter nicht geahndeten Handspiel in der Verlängerung die Entscheidung zugunsten seiner Mannschaft herbeigeführt hatte, merkte der Theologe und ehemalige Fußball-Profi Peter Steinacker in einem Interview an: „Henry hat die Würde des Fußballs verletzt.“
Spätestens damit war die Frage in den Raum gestellt: Hat eine Sportart eine antastbare Würde? Wenn ja, dann kann man sie durch Aktionen der genannten Art auch tatsächlich verletzen. Und genau einem solchen Denkansatz folgen alle in dem vorliegenden Buch, ja in der gesamten Schriftenreihe zusammengetragenen Studien: Einem kulturellen Sinnfeld wie dem Sport kommt Würde zu. Ihren Gehalt, ihre grundsätzliche Verletzbarkeit sowie ihre tatsächlichen Verletzungen immer genauer zu beschreiben, ist und bleibt eine unabschließbare Aufgabe der Sportwissenschaft.
Die kulturelle Sportidee inkorporiert in sich disparate soziale Ideen, vereinigt, transformiert und amalgamiert sie aber zugleich zum sportlichen Eigensinn: Sport kann zugleich als aristokratisch, bürgerlich und proletarisch verstanden werden. Jede der drei Seiten trägt ihm eigene Vorwürfe ein. Er sei in verschwenderischer Weise unnütz; er schließe die nicht Leistungswilligen aus und diskriminiere sie; er sei primitiv körperfixiert. Alle drei Vorwürfe widersprechen sich gegenseitig. Sie können mithin gar nicht gleichzeitig gelten. Das zeigt, dass sie auf Wahrnehmungs- bzw. Deutungsfehlern basieren: Der Sportsinn besteht aus allen drei Sinnelementen gemeinsam und synthetisiert sie zu etwas Eigenem. Darin bestärken sich gegenseitig deren positive und neutralisieren deren negative Seiten. Damit begründen sie die Würde des Sports als einem unverzichtbaren Mitträger der Weltkultur.
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