Rhetorik als literaturtheoretische Praxis (zu Derrida, de Man und Barthes)
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et de la volonté.‹«
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Erst dadurch, daß de Man sowohl die Perspektivierung als auch
den Konflikt zwischen Vater und Großmutter ignoriert und stattdessen die Stimme
der Großmutter unmittelbar an den jungen Marcel richten läßt, greift seine Analo-
gie, mit der die Literaturwissenschaftler dadurch lächerlich gemacht werden, weil
sie wie die Großmutter »nach der frischen Luft der referentiellen Bedeutung« riefen.
In einem zweiten Schritt wird die Priorisierung der Sprache gegenüber der Bedeu-
tung, der Ausdrucks- gegenüber der Inhaltsebene, das
Wie
gegenüber dem
Was
, mit
der Semiologie auf den Begriff gebracht, da sie gegenüber einer »themenorientierten
Literaturwissenschaft« (35) – gedacht wird wohl an die thematologisch orientierte
Komparatistik der Pariser Schule mit ihren Themen-, Stoff- und Motivvergleichen,
der auch die Kritik des jungen Roland Barthes galt – für »semiologische Hygiene«
(35) gesorgt habe. Gemeint ist mit dieser nicht unproblematischen Wendung, die ei-
ne Reinheitsideologie impliziert, daß die Semiologie mit ihrer Bezugnahme auf die
Ausdrucksebene der Signifikanten (»signs as signifiers«
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; die deutsche Übersetzung
verdreht die Bedeutung der Stelle, wenn es hier fälschlich »Zeichen als Signifikate«
heißt) die favorisierte Priorisierung der Sprache gegenüber der Bedeutung ratifiziert,
da sie nicht danach fragt, »
was
Wörter bedeuten, sondern
wie
sie bedeuten.« (34)
Die entscheidende, im Aufsatztitel genannte Differenz zwischen Semiologie und
Rhetorik wendet de Man nun gegen die zuvor eigens herausgestellte puristische ›Hy-
giene‹ der Semiologie selbst, da diese nur die grammatische, nicht jedoch die rhe-
torische Dimension der Sprache berücksichtige.
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Diese Bruchstelle ähnelt Ricœurs
Unterscheidung zwischen semiotischer Erklärung und semantischer Interpretation,
die bei ihm freilich zu
einem
›hermeneutischen Bogen‹ zusammengespannt (s.u.
Exkurs) und nicht wie bei de Man gegeneinander ausgespielt werden. Im Blick auf
die Figur der rhetorischen Frage spielt de Man eine »Epistemologie der Gramma-
tik«, der die Semiologie verhaftet bliebe, gegen die »Epistemologie der Rhetorik«
aus, da – wie an zwei Beispielen herausgearbeitet wird – »ein vollkommen klares
syntaktisches Paradigma (die Frage) [...] einen Satz [erzeugt], der mindestens zwei
Bedeutungen hat, von denen die eine ihren eigenen illokutiven Modus bejaht und
die andere ihn verneint.« (39) Dafür, daß bei der rhetorischen Frage durch einen Fra-
gesatz eine forcierte Aussage erfolgt, wird neben dem abschließenden Vers aus der
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Vollständig heißt die von de Man umschriebene Passage im Original: »Après le dîner, hélas, j’étais
bientôt obligé de quitter maman qui restait à causer avec les autres, au jardin s’il faisait beau, dans le petit
salon où tout le monde se retirait s’il faisait mauvais. Tout le monde, sauf ma grand’mère qui trouvait que
›c’est une pitié de rester enfermé à la campagne‹ et qui avait d’incessantes discussions avec mon père, les
jours de trop grande pluie, parce qu’il m’envoyait lire dans ma chambre au lieu de rester dehors. ›Ce n’est
pas comme cela que vous le rendrez robuste et énergique, disait-elle tristement, surtout ce petit qui a tant
besoin de prendre des forces et de la volonté.‹« Marcel Proust,
Do'stlaringiz bilan baham: