Frankfurt und Straßburg (1768–1771)
Goethes Wohnhaus in Straßburg, ehemals am Fischmarkt, jetzt Rue du Vieux Marché aux Poissons
Die lebensbedrohliche Erkrankung erforderte eine lange Rekonvaleszenz und machte ihn empfänglich für die Vorstellungen des Pietismus, die eine Freundin der Mutter, die Herrnhuterin Susanne von Klettenberg, ihm nahebrachte. In dieser Zeit fand er in seinem Erwachsenenleben vorübergehend den engsten Kontakt zum Christentum.[24] Er beschäftigte sich außerdem mit mystischen und alchemistischen Schriften, einer Lektüre, auf die er später im Faust zurückgreifen sollte.[25] Unabhängig davon verfasste er in dieser Zeit sein erstes Lustspiel Die Mitschuldigen.
Im April 1770 setzte Goethe sein Studium an der Universität Straßburg fort. Straßburg war mit 43.000 Einwohnern größer als Frankfurt[26] und im Westfälischen Frieden dem französischen Königreich zugesprochen worden. Der Unterricht an der Universität erfolgte großenteils noch in deutscher Sprache.
Diesmal widmete sich Goethe zielstrebiger den juristischen Studien, fand aber auch Zeit, als Gasthörer 1770/1771 die Vorlesungen über Chemie und Botanik von Jacob Reinbold Spielmann zu besuchen.[27] In Straßburg knüpfte er eine ganze Reihe persönlicher Bekanntschaften. Die wichtigste davon war die mit dem Theologen, Kunst- und Literaturtheoretiker Johann Gottfried Herde4r. Goethe nennt es das „bedeutendste Ereignis“ der Straßburger Zeit.[28] Der Ältere öffnete ihm bei den fast täglichen Besuchen die Augen für die ursprüngliche Sprachgewalt von Autoren wie Homer, Shakespeare und Ossian sowie der Volkspoesie und gab so entscheidende Impulse für Goethes dichterische Entwicklung. Später sollte er auf Goethes Fürsprache hin in weimarische Dienste berufen werden. Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis, der sich meist beim gemeinsamen Mittagstisch traf, gehörten auch der spätere Augenarzt und pietistisch geprägte Schriftsteller Jung-Stilling und der Theologe und Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz. Obwohl von religiös orientierten Freunden umgeben, wandte er sich in Straßburg endgültig vom Pietismus ab.[29]
Durch einen Studienfreund wurde er in die Familie des Pfarrers Brion in Sessenheim (Goethe schreibt Sesenheim) eingeführt. Er lernte dabei die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen und lieben. Mit dem Abgang von der Straßburger Universität beendete der bindungsscheue junge Goethe die Beziehung, was für Friederike freilich erst durch einen Brief Goethes aus Frankfurt ersichtlich wurde. Wie Nicholas Boyle diese Episode deutet, musste sich Friederike schwerwiegend kompromittiert fühlen, da Goethe durch sein Verhalten ihr gegenüber als ihr Verlobter gelten konnte.[30] Erschüttert und schuldbewusst nahm Goethe die Nachricht über ihren gesundheitlichen Zusammenbruch auf, die er ihrem späteren Antwortbrief entnahm.[31] Die an Friederike gerichteten Gedichte, die später als Sesenheimer Lieder bekannt wurden (u. a. Willkommen und Abschied, Mailied, Heidenröslein), sind nach Karl Otto Conrady mit dem Etikett „Erlebnislyrik“ falsch benannt. Die äußere Form der Lyrik biete nichts Neues und auch der sprachliche Ausdruck gehe allenfalls in Nuancen über die gewohnte Gedichtsprache hinaus. Gleichwohl trage das Ich in ihnen individuelle Züge und lehne sich nicht an „vorgegebene Muster schäferlicher Typen“ an, vielmehr erschienen „sprechendes Ich, Geliebte, Liebe und Natur in einer bisher nicht gekannten sprachlichen Intensität“.[32]
Im Sommer 1771 reichte Goethe seine (nicht erhaltene) juristische Dissertation ein, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zum Thema hatte. Die Straßburger Theologen empfanden sie als skandalös; einer von ihnen bezeichnete Goethe als „wahnsinnigen Religionsverächter“. Der Dekan der Fakultät empfahl Goethe, die Dissertation zurückzuziehen. Die Universität bot ihm jedoch die Möglichkeit, das Lizenziat zu erwerben. Für diesen niedrigeren Abschluss brauchte er nur einige Thesen aufzustellen und zu verteidigen.[33] Grundlage der Disputation am 6. August 1771, die er „cum applausu“ bestand, waren 56 Thesen in lateinischer Sprache unter dem Titel Positiones Juris. In der vorletzten These sprach er die Streitfrage an, ob eine Kindsmörderin der Todesstrafe zu unterwerfen sei. Das Thema griff er später in künstlerischer Form in der Gretchentragödie auf.
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