III.4. D
er Abstieg der Hagenströms
Aber Verfall: ist er trauriger als der Fontäne
Rückkehr zum Spiegel, den sie mit Schimmer bestaubt?
Rilke
Von der "unerbittlichen Notwendigkeit" des Schicksals spricht Jean Buddenbrook zu
Beginn des Romans. Daß diese auch die am Ende obenstehenden Hagenströms ereilen
wird, ergibt sich aus dem Romangeschehen selbst. Der gleiche Verlauf des Niedergangs
der Ratenkamps und der Buddenbrooks haben das Muster gleichsam vorgegeben, nach
dem auch Hagenströms sinken werden, und nach dem auf den Aufstieg notwendig der
Abstieg folgen muß. Durch die inhaltlichen und wörtlichen Entsprechungen in den
Beschreibungen der Schicksale beider Familien verstärkt sich beim Leser der Eindruck
eines folgerichtigen und notwendigen Geschehens, das nun auch für die Hagenströms zu
erwarten ist.
"Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod", sagt Thomas Buddenbrook etwa in
der Mitte des Romans (M,I,430). Dieses Sprichwort läßt uns einen kritischeren Blick
zurück auf den Anfang werfen, an dem die Buddenbrooks - auf der Höhe ihres Glanzes
- das neue Haus in der Mengstraße bezogen. Hier also war bereits der Abstieg
angelegt. Wenn der Roman dann damit endet, daß Hagenströms dieses Haus beziehen,
wird das ewige Gesetz, das in dem Sprichwort ausgedrückt ist, nicht auch für sie
gelten?
202
Folgt nicht immer notwendig Verfall auf Prosperität und Glück?
203
Abgesehen
davon, daß die bisherigen Schicksale der Mengstraßenbewohner dafür sprechen, gibt es
auch im Roman selbst Anzeichen dafür.
Auf der Ausfahrt, bei der es zur Verlobung Tonys und Permaneders kommt, treffen
Buddenbrooks im Ausflugslokal auf die Familien Möllendorpf und Hagenström.
204
Auch
202
Vgl. Vogt: Buddenbrooks, S.73: "Wenn die Geschichte als Rad vorgestellt werden muß, wie der
Roman es nahelegt, so hat es nun eine weitere Umdrehung ausgeführt: Hagenströms folgen den
Buddenbrooks wie diese den Ratenkamps."
203
Vgl. Petriconi: Höllensturz, S.105
204
Die Begegnung der im Abstieg begriffenen Buddenbrooks mit den auf der Höhe ihres Glanzes
befindlichen Hagenströms an dieser Stelle hat die Funktion, die verschiedenen Stationen der
identischen, nur zeitlich versetzten Entwicklungslinie beider Familien zu verdeutlichen. Die
Schicksale der Buddenbrooks und Hagenströms werden mehrfach im Roman einander
gegenübergestellt. Hier wird in vermeintlich plauderhaftem Ton Entscheidendes über das
Konkurrenzverhältnis der beiden Familien gesagt: Unterwegs auf dem Spaziergang stellt Thomas
fest: "Da! (...) Wir sind überholt worden. Möllendorpfs und Hagenströms." (M,I,348,
Hervorhebung v.d.V.) Vorher im Lokal hat die Konsulin Plätze für ihre Familie reserviert: "...aber
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in diesen beiden "vorteilhaft liierten Familien", die durch günstige Heiraten untereinander
ständig an ihrem Aufstieg arbeiten, schlummert bereits der Keim zum Abstieg. Der alte
Senator Möllendorpf ist zuckerkrank (M,I,348). Er wird im folgenden auf "groteske und
schauerliche Weise sterben" (M,I,407): Seine "Selbsterhaltungsinstinkte" lassen so sehr
nach, daß er, obwohl Diabetiker, seiner gierigen Leidenschaft für Kuchen erliegt. Der
Bruder Hermann Hagenströms, der Rechtsanwalt Moritz Hagenström, verheißt mit
"flacher Brust und gelblichem Teint" und dem Anblick seiner "spitzigen, lückenhaften
Zähne" nichts Gutes (M,I,348), zumal wir gerade die schlechten Zähne als untrügliches
Zeichen für den desolaten Gesamtgesundheitszustand und die Lebensuntüchtigkeit ihres
Besitzers kennengelernt haben. Moritz' kränkliche Konstitution wird bereits früh im
Roman erwähnt: Als Tony mit Julchen und Hermann zur Schule geht, heißt es, ihr
Bruder Moritz sei "kränklich" und werde "zu Hause unterrichtet" (M,I,63f). Auf der
Fahrt nach Travemünde ist im Gespräch zwischen Tony und Thomas von Moritz'
schwacher Brust die Rede (M,I,119).
205
Man könnte hier einwenden, daß Hagenströms wahrscheinlich keinen hochsensiblen
und musikalischen Hanno hervorbringen könnten.
206
Darauf läßt sich Folgendes
erwidern: Auch Buddenbrooks sind, wie ihre Familiengeschichte beweist, zu Beginn
sehr lebenstauglich gewesen. Noch Johann Buddenbrook d.Ä. ist am Anfang des
Romans ein lebendiges Beispiel dafür. Selbst der schon sensiblere Jean hat mehrere
schwere Unfälle überlebt, so die Chronik (M,I,54f), und der allererste Buddenbrook,
der "eine ungemeine Menge an Kindern gezeugt" hat, "tote und lebendige, wie es gerade
kam" (M,I,58), steht wohl den Hagenströms an Vitalität in nichts nach.
Noch heiraten fast alle Hagenströms vor Ort, doch warum sollte nicht in nächster
Zukunft einmal ein Nachfolger des bereits körperlich dekadenten Moritz einen
exquisiteren Geschmack an den Tag legen und eine Frau wie Gerda heiraten? Auch
diese Annahme wird durch erste Anzeichen als wahrscheinlich nahegelegt, denn schon
Moritz hat es "mit seinem Rufe als Schöngeist nicht vereinbaren können, ein häßliches
Mädchen zu ehelichen" (M,I,348f.) und eine schöne Frau aus Hamburg geheiratet. In
seiner ungewöhnlichen Wahl, da er als erster seiner Familie keine Lübeckerin heiratet,
seinen schlechten Zähnen und seinem Interesse an der Literatur wiederholen sich
wichtige Züge der Biographie Thomas Buddenbrooks.
nicht zu hoch; auf dem zweiten Absatz, dünkt mich..."(M,I,347, Hervorhebung v.d.V.). Hagenströms
und Möllendorpfs dagegen sitzen "dort oben auf der dritten Etage" (M,I,348). Hier ist symbolisch
der Sieg der Hagenströms über die Buddenbrooks bereits vorweggenommen, lange bevor sie ihr
Haus kaufen.
205
Vgl.Keller: "Verfall", in: Moulden, von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch, S.160f. und
Ebel: Welthaftigkeit, S.23
206
Petriconi dagegen stellt fest: "Der Gegensatz zu den Hagenströms besteht nur in den Augen der
Buddenbrooks, im Sinne des Autors lösen die Familien einander ab." Petriconi: Höllensturz, S.155.
Vgl. auch Diersen: Leben, S.36f.
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Die verschiedenen Epochen, die unterschiedlichen zeitlichen Strömungen, die in
Buddenbrooks an unserem geistigen Auge vorüberziehen, unterliegen den selben
Gesetzen. Vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts an, als der erste Buddenbrook in
der Chronik genannt wird, über die Zeit der Schäferidyllen, die die Tapete im
Landschaftszimmer schmücken; von der durch Jeans Vorliebe für den verwilderten
Garten und in der Figur des Maklers Gosch angedeuteten Romantik bis hin zur in
Hagenströmscher Aktivität gipfelnden Gründerzeit der Siebziger Jahre des neunzehnten
Jahrhunderts vollzieht sich das Geschehen gemäß dem Gesetz der "unerbittlichen
Nothwendigkeit" des Schicksals, versinnbildlicht in den Götterstatuen des
Speisetempels und dem "Dominus providebit" über dem Hauseingang in der
Mengstraße.
Wenn auch am Ende acht trostlose schwarzgekleidete Witwen und alte Jungfern
übrigbleiben, so ist die Kreisstruktur des Romans, da hier wieder auf den Anfang
zurückverwiesen wird, zu offensichtlich, als daß man sie übersehen könnte:
207
Eine Reihe
von genauen inhaltlichen und wörtlichen Entsprechungen erinnert an den Beginn: Wieder
ist Herbst, Abend; das Wetter wird wörtlich gleich beschrieben wie am Abend des
Einweihungsfestes; Regen und entblätterte Bäume bestimmen das trostlose Bild
(M,I,755), und Sesemis Schlußwort schließt mit dem entschiedenen "Es ist so!" - einer
Variation des letzten Katechismussatzes "Dies ist gewißlich wahr"
208
- an Tonys
Eingangsfrage aus dem Katechismus ("Was ist das") nahtlos an. Der Kreis schließt
sich.
209
"Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das
Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in der Natur,
welche sie in allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der
Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strohm der Zeit
und ihres Inhalts doch ein bestehendes Daseyn (...) möglich wird" (S,IV,559).
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