4. THESE II: DAS PHÄNOMEN DER MARGINALITÄT
Aufgrund unserer Überlegungen zum Verhalten im Automobilverkehr kämen wir, wenn wir der traditionellen kriminologischen Arbeitsweise folgten, zu dem Ergebnis, dass weitere und effektivere formelle Kontrollen des Verhaltens im Verkehr geschaffen werden müssten;139 denn wie wir gesehen haben, reichen die bisher bestehenden formellen Kontrollen nicht, um einen spürbaren Einfluss auf das Verkehrsverhalten zu nehmen, und die informellen Kontrollsysteme des täglichen Lebens, d. h. die Kontrollsysteme, die bei Person-Person Interaktionssituationen beobachtet werden können, bleiben unwirksam, da ihre Wirksamkeitsvoraussetzungen, die Perzeption von Alter als Person und möglichen Sanktionsgeber, nicht vorliegen; eine andere Möglichkeit als die formelle Kontrolle auszuweiten, scheint aber nicht zu bestehen.140
Der "gesunde Menschenverstand" sagt uns also, die formellen Kontrollen des Verkehrsverhaltens auszuweiten. Gingen wir jedoch diesen Weg, so würden wir uns, wenn auch in guter Gesellschaft mit anderen Reformern, in eine "Falle des gesunden Menschenverstandes" begeben; denn, wie wir in unserem Eingangskapitel aufgezeigt haben, ermöglicht der "gesunde Menschenverstand" zwar ein Leben in der sozial konstruierten Wirklichkeit, aber eben wegen dieser Tatsache erschwert sein Gebrauch auch gleichzeitig die Analyse der Konstruktion der sozialen Wirklichkeiten und damit auch deren Umkonstruktion.
Wir haben diesen Zusammenhang in unserem vorigen Kapitel zum Verkehrsverhalten aufweisen können. Dort haben wir der populären These vom aggressiven Verhalten im Straßenverkehr unsere Gegenthese vom Verkehrsverhalten als System von Person-Objekt Interaktion gegenübergestellt und konnten mit ihrer Hilfe ein Verständnis des vom Standpunkt des "gesunden Menschenverstandes" "persönlichkeitsfremden" Verkehrsverhaltens erreichen. Ebenso wie dort wollen wir auch in diesem Kapitel eine scheinbar dem gesunden Menschenverstand widersprechende These vertreten und nachweisen, nämlich die These, dass aufgrund des bisher wenig beachteten Phänomens der Marginalität sozialpsychologische Grenzen für die Anwendung institutioneller Sanktionen bestehen und dass deshalb nicht eine Ausweitung der formellen Kontrollen im Straßenverkehr sondern eine Beschränkung und Umorientierung ihrer Anwendung eine Kontrolle des Problems der Verkehrssicherheit verspricht.
Ansatzpunkt für unsere Überlegungen ist ähnlich wie im vorigen Kapitel die Frage, warum trotz der Bemühungen so vieler Wissenschaftler das Verkehrsverhalten sich einer wirksamen Regelung bisher verschlossen hat. Und ebenso wie dort wollen wir in diesem Kapitel die Ursachen nicht in den bisher angewandten Erkenntnismethoden suchen, sondern in den als feststehend betrachteten Grundlagen dieser Erkenntnismethoden, d. h. wir wollen das "Katastrophengebiet" Verkehrsrechtspflege, das die Verhaltensgeltung rechtlicher Normen in Frage stellt, zum Anlass nehmen, das institutionelle Strafen und seine Grenzen neu zu durchdenken. Eine Anregung auf die Neubesinnung gibt KAISER, wenn er ausführt: "Die Vielschichtigkeit des Gefahren- wie Verbrechenbegriffs zwingt keinesfalls zur Erweiterung des Kriminalisierungsbereiches, noch gewährleistet die Vorverlegung der strafrechtlichen Verteidigungslinie per se eine gesteigerte Wirksamkeit des Verkehrsrechts".141
Auch der Verkehrsgesetzgeber hat scheinbar dem Grundsatz, dass institutionelle Strafen nicht unbeschränkt erfolgen können ohne ihr Wirksamkeit zu verlieren, mit der Neugestaltung des Ordnungswidrigkeitenrechts Rechnung getragen, indem er das Straßenverkehrsrecht entkriminalisierte, wenn auch unter gleichzeitiger "Vorverlegung der strafrechtlichen Verteidigungslinie",142 wobei "die These von dem tief greifenden qualitativen Unterschied zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit"143 weitgehend aufgegeben wurde. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass, soweit man bei dem Ordnungswidrigkeitenrecht überhaupt von einer Einschränkung staatlichen Strafens sprechen kann, dieser Schritt nicht aus grundsätzlichen Erwägungen zur Beschränkung staatlichen Strafens entsprang, sondern einen organisatorisch notwendig gewordenen Behelf darstellt, der das zu lösende Problem des Wachsens der Staatsaufgaben und der staatlichen Regelungen vor sich herschiebt bzw. es verdeckt.144
Schärfer gefasst wird das im Verkehrsrecht exemplarisch für andere Rechtsgebiete auftretende Problem der Grenzen institutioneller Regelungen in der Begründung der StVO: "Das Wesen des Verkehrs selbst ist es, das dem Verkehrsgesetzgeber im übrigen Zurückhaltung beim Erlass von Verkehrsregeln auferlegt. Man muss sich vor Augen halten, dass Normen auf keinem anderen Gebiet in das Leben so unmittelbar eingreifen wie Verkehrsvorschriften. "145
Trotz dieser klaren Problemerkenntnis findet sich aber in der StVO nicht die Ausführung dieses Gedankens. Zwar werden gegenüber der Vorgängerin in der neuen StVO die Vorschriften klarer und zurückhaltender formuliert, aber das Problem der Überwachung durch staatliche Kontrollorgane wird nicht einmal berührt.
Demgegenüber haben vor allem KAISER, und in allgemeinerer Form vor ihm POPITZ sowie BRAUNECK146 auf die Grenzen staatlichen Strafens hingewiesen. Danach sind dem Staat sozialpsychologische Grenzen bei der Verhaltensregelung durch institutionelle Maßnahmen auferlegt; denn "ist für die Strafverfolgungsorgane, und damit für die berufenen Instanzen der Definierung, wer Verbrecher ist, jedermann bzw. jeder Kraftfahrer gleichnahe, so wird leicht die im Wege der Identifikation mit dem Täter einhergehende Bagatellisierung des kriminalisierten Vorgangs das Ergebnis sein. Gesetze erweisen sich dann als "Schläge ins Wasser", Urteile gehen ins Leere. Ein strafrechtlicher Umwertungsprozess und eine von den Sitten weitgehend ungestützte Kriminalisierung können, wie es scheint, nur dann die angestrebten Ziele, und das heißt hier Verkehrssicherheit erreichen, wenn zuvörderst "die anderen" betroffen sind, also eine Minderheit ... ".147
Dieser für das Strafrecht allgemein bedeutsame Gedanke soll im folgenden am Beispiel des "Katastrophengebietes: Verkehrspflege" weiterverfolgt und ausgebaut werden; ebenso aber auch die Konsequenz dieses Gedankens, die von den oben genannten Autoren nicht erörtert wurde: Die Rückübertragung staatlicher Aufgaben auf nichtstaatliche, soziale Kontrollorgane.
Zum Zweck der Darstellung unserer These von den Grenzen institutioneller Sanktionen wollen wir zunächst unter Anlehnung an GEIGER148 eine vereinfachte Version des traditionellen Modells der Verhaltensregelung durch institutionelle Sanktionen darstellen. Dort werden wir vor allem auf drei "rationale" Ansätze, nämlich die von PACKER, KAISER und HASSEMER149 hinweisen, die vom traditionellen Modell her kommend auf die Grenzen staatlichen Strafens aufmerksam machen. Diese Gedanken werden wir dann unter Benutzung eines allgemeinen sozialen Phänomens, das wir das Phänomen der Marginalität nennen wollen, in einem soziologischen Bezugsrahmen weiterführen. Daraus wird sich dann ergeben, dass staatlichen Maßnahmen nicht nur "rationale" sondern auch "soziale" Grenzen gesetzt sind, bei deren Überschreiten sozialfunktionale Maßnahmen in Disfunktionalität umschlagen.
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