11. Würde Vom Ringen mit der menschlichen Unvollkommenheit



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11.
Würde
Vom Ringen mit der menschlichen Unvollkommenheit

Das vorliegende Buch ist in einer Reihe von Studien der Frage nachgegangen, inwieweit man von der Würde eines Kulturbereiches wie des Sports sprechen kann, inwiefern die unantastbar ist und wie allgegenwärtig die Situationen sind, in welchen sie dennoch angetastet und dadurch beschädigt und in ihrer gesellschafts-bereichernden Wirkung beeinträchtigt wird.

In diesem abschließenden Kapitel wird der allgemeine gedankliche Hintergrund nachgetragen, von dem aus gehaltvoll von „Würde“ gesprochen werden kann. Von ihm sind auch die vorstehenden sportbezogenen Studien getragen.

Schon vorab kann resümierend soviel festgestellt werden: Würde umfasst den gemeinsamen Nenner dessen, was wir uns alle als die Möglichkeiten des Menschen vorstellen und grundsätzlich allen von uns zutrauen. Verletzungen dieser Würde können von innen, von uns selbst durch Selbstunterforderung erfolgen, oder von außen, durch das Einwirken von natürlichen oder von menschlichen Mächten, also durch psychophysische Beschädigungen oder durch soziale Unterdrückung jener Möglichkeiten. Sie können jedoch die Berechtigung des Anspruchs auf Würde nicht beeinträchtigen oder gar aufheben.



1. Prolog: Sechs Worte als Wegweiser für eine Abenteuerreise
„Würde“. So einfach! So evident! So allgegenwärtig in jeder Alltags- wie Festrede! Aber dann: Sobald man sich annähert, steckt man fest in der Paradoxie des Augustinus in seiner Rede über die Zeit: Denke ich nicht über sie nach, weiß ich, was sie ist. Denke ich über sie nach, entzieht sie sich. Es lohnt trotzdem den Versuch: eine Annäherung in vielen kleinen Schritten, aus denen sich schließlich doch ein halbwegs erhellendes Gesamtbild ergeben mag. Der Versuch führt auf eine geistige Entdeckungs-, ja Abenteuerreise. Eröffnet wird sie mit sechs „Worten“, die den Rahmen unseres Themas abstecken.

(1) Wort 1: Verfassungsgebot. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So spricht das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im ersten Absatz seines ersten Artikels.1 Unantastbar? Als indikativische Aussage ist dieses Wort offensichtlicher Nonsens. Schlimmer: eine Verharmlosung der Allgegenwart des heillosen Gegenteils. Denn jede beliebige Nachrichtensendung ist gespickt mit Berichten über angetastete menschliche Würde. Da Verfassungsgeber zumindest in demokratischen Staaten nicht das Geschäft des orwellschen „Wahrheitsministeriums“ betreiben, tut man offenbar gut daran, dieses Wort anders zu lesen: als imperativische Aussage, die das unausgesprochene „soll“ hinter einem Pseudo-Indikativ verbirgt; vielleicht, um die erwünschte unbedingte Geltung nicht durch die Vieldeutigkeit eines solchen Sollens abzuschwächen und zu relativieren; vielleicht auch, um die Verfassung als den Grundlagentext der politischen Gemeinschaft der Deutschen nicht mit einer negativen Formulierung zu eröffnen nach dem Muster: „Niemand darf die Würde des Menschen antasten.“ Jedenfalls beinhaltet dieses erste Wort keine Tatsachenfeststellung. Als solche wäre es offensichtlich unzutreffend. Sie kodifiziert vielmehr eine juristische Norm, eine Forderung, die zugleich eine außerordentliche Herausforderung für das Handeln aller von dieser Norm Gemeinten und Betroffenen beinhaltet. Ähnliches gilt auch für die Formulierung von Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren.“ Sie sind nicht so geboren, was eine biologische Kategorie wäre. Sondern sie haben einen inzwischen durch weltweit erklärte Konvention begründeten und verbürgten Anspruch darauf, was eine moralische bzw. rechtliche Kategorie ist.

(2) Wort 2: Verfassungsbeschreibung. „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“. So spricht der – inzwischen gescheiterte – Entwurf zum Vertrag über eine Verfassung für Europa aus dem Jahr 2004 in seinem Artikel I-22. Die Würde wird auch hier in einer indikativischen Formulierung angesprochen, aber nicht, wie im GG, als scheinbar unbestrittene Tatsache, sondern nur als Feststellung der Werte, auf welche sich die zu gründende Union europäischer Staaten berufen würde, wenn sie denn zustande käme. Was bekanntlich bisher allerdings nicht der Fall ist, weil der Entwurf gescheitert ist an ablehnenden Volksentscheiden in mehreren EU-Staaten. Auffällig gegenüber dem GG ist hier die Nebenordnung der Menschenwürde innerhalb einer diffus anmutenden Mehrzahl von Werten, deren logisches und rechtliches Verhältnis zueinander undeutlich bleibt. Schon dies wäre ein – und zwar in diesem Fall ein guter – Grund gewesen, diesemn Verfassungsentwurf mit Skepsis zu begegnen.

(3) Wort 3: Selbstschöpfung. „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. (…) Weder zu einem Himmlischen noch zu einem Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben ins Göttliche.“3 So lässt der Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola in seiner berühmten „Oratio de hominis dignitate – Rede über die Würde des Menschen“ den Schöpfergott sein Geschöpf Adam ansprechen, nachdem er das Haus der Welt fertiggestellt hat und sich wünscht, „es sollte jemanden geben, der imstande wäre, die Einrichtung des großen Werkes zu beurteilen, seine Schönheit zu lieben, seine Größe zu bewundern“4. Pico liest also den Bannfluch bei der Vertreibung aus dem Paradies gegen den Strich und wendet ihn ins Positive. Er gründet, ähnlich wie später John Milton in seinem nicht minder berühmten biblischen Epos „Paradise Lost“5, die Würde des Menschen auf die Freiheit, die sein Schöpfer ihm zur Selbstschöpfung verliehen habe, damit aber auch auf die Eigenverantwortung, die er als Mitschöpfer der menschlichen Welt für deren menschenwürdiges Gelingen oder menschenunwürdiges Missraten und Scheitern übernimmt. Pico stellt damit die Stiftungsurkunde für das Bild des modernen Menschen aus. Und er stellt die Würde in deren Mittelpunkt als diejenige Herausforderung, an welcher der Mensch sich bewähren und sich dem damit gewährten Vertrauensvorschuss – eben! – würdig erweisen muss.

(4) Wort 4:Unwürdigigkeit des Menschen? „Herr, ich bin unwürdig.“ So steht es auf vielen Mahntafeln am Wegesrand in katholisch geprägten Gegenden zu lesen. Es ist ein Memento und eine Selbstanklage, welche idealtypisch jene Selbstzerknirschung zum Ausdruck bringen, jene für das Christentum charakteristische Selbstherabsetzung des Menschen, an der Friedrich Nietzsche so heftigen Anstoß genommen hat und die Picos froher Botschaft direkt zu widersprechen scheint. Wieso also „unwürdig“? Allemal gerechtfertigt wäre ein solches Memento, wenn es gemeint wäre als Ausdruck von Demut, als Warnung, als Selbstschutz gegen die Anfechtungen von Hochmut und von hybrider Selbstüberschätzung, sowie gegen selbstgefällig wohlfeile Entlastungen von allfälligem eigenem Versagen. Aber tut der Mensch recht daran, sich deshalb als notorisch unwürdig zu bezeichnen? Ohne Wenn und Aber? Berechtigt wäre dies allenfalls dann, wenn er sich mit dieser Selbstbeschreibung Gott gegenüberstellte, sich also am Maßstab des Absolutheitsanspruches göttlicher Vollkommenheit mäße. Aber kann es auch dann und dort berechtigt sein, wenn und wo er sich an dem misst, was billigerweise von Menschen gegenüber Menschen, also am Maßstab des Relativanspruches menschlicher Unvollkommenheit verlangt werden kann? Soll ihm also etwa pauschal abgesprochen werden, dass er sich vor diesen zwischenmenschlichen Anforderungen durchaus als würdig erweisen kann? Und dass er aufgefordert ist, sich gerade darum zu bemühen?

(5) Wort 5: Erkämpfte Würde. „Würde und Leiden können nicht leicht nebeneinander bestehen, und doch hat es Shakespeare wie niemand sonst geschafft, sie miteinander zu versöhnen.“6 Diese Summe zieht Harold Bloom in seiner wunderbaren Studie über das Werk William Shakespeares. Auf den ersten Blick mag diese Beobachtung überraschen. Assoziieren wir mit Würde nicht, wie gesehen, vor allem eine Aura von Überlegenheit und Unanfechtbarkeit. So sehr dies aber zutrifft, so nachdrücklich ist es auch eingeschränkt. Würde verwirklicht sich nicht in einer harm- und problemlosen Idylle, nicht in einem schlichten Triumphalismus. Ja, sie steht für ein Gelingen. Aber doch nur für ein solches Gelingen, das erst nach schwerer Prüfung einer ernsten Herausforderung abgerungen, ja abgekämpft worden ist. Sie steht für ein erfolgreiches Ringen mit der menschlichen Unvollkommenheit. Diese Doppelgesichtigkeit zeigt sich deutlicher im letzten Eingangs-Wort.

(6) Wort 6: Ins Gesicht geschrieben. Die Bilder eines Foto-Reise-Bandes „dokumentieren etwas, dessen Verlust droht: Menschenwürde, das Gefühl des Lebendigseins, ist nicht nur ein unverzichtbarer Rechtstitel, der jedem Individuum zukommt. Würde ist etwas, was ein Mensch ausstrahlt, was ihm ins Gesicht geschrieben steht. Fotografien können einen Teil dieser Ausstrahlung festhalten, diese kaum fassbare Realität, die ebenso Teil eines Menschen ist wie seine leibliche Erscheinung.“ So bewirbt ein Verlag einen Bildband, publiziert unter dem Titel „Unantastbar. Von der Würde des Menschen“7. Er dokumentiert sechs Reisen der Autoren zur Wiege der Zivilisation, die wir, wie es scheint, in einigen verbliebenen kleinen „Inseln“ auch heute noch antreffen und darin gleichsam unsere Vergangenheit besichtigen können: in der Flusslandschaft des Orno in Äthiopien und in das kenianische Rift Valley, in die abgelegenen Berge des Goldenen Dreiecks im Norden Myanmars und Thailands, in die abgeschiedene Wüste Thar im Nordwesten Indiens sowie in das Königreich Bhutan – kurz, wie es in jenem Werbetext weiter heißt: in die „letzten Kulturen, die noch nicht in den Mahlstrom der Uniformierung geraten sind, die zur unvermeidlichen Kehrseite der ökonomischen Globalisierung und Ausbreitung moderner Informationstechnologien gehört“.

Hier wird also ein Gegenbild zu Picos Vision entworfen: menschliche Würde, welche aus einer vormodernen, gleichsam natürlichen Unberührtheit gespeist und durch die Errungenschaften der Moderne gefährdet wird. Aus diesem Bild spricht eine romantische Verklärung jenes paradiesischen Urzustandes, bevor Adam und Eva als Stammeltern der Menschheit gegen das göttliche Verbot vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.8 Würde aber kann, wie wir noch sehen werden, überhaupt erst entstehen durch gelingende Auseinandersetzung mit der nachparadiesischen menschlichen Unvollkommenheit und Endlichkeit. In der ungetrübten, durch keinerlei Art von Knappheiten und Herausforderungen beeinträchtigten Schlaraffenland-Fülle – und entsprechenden Langeweile! – des raum-, zeit- und ereignislosen Paradieses hingegen hat Würde keinen logischen Platz. Jedenfalls festzuhalten aber bleibt aus diesem Bild die Einsicht, dass Würde nicht festgelegt und beschränkt ist auf einen herrschaftlichen Status. Sie kann gleichermaßen verkörpert sein in jedem von den „Geringsten unter euch“.


2. Die Fortschreibung von Picos Stiftungsurkunde
(7) Selbstregierung. Pico della Mirandolas Stiftungsurkunde ist fortgeschrieben worden insbesondere mit Kants vernunftphilosophischer Begründung der Verpflichtung – Sartre wird später sagen: mit der Verurteilung – des Menschen zur Freiheit der Selbstregierung. Begabt mit Vernunft, ist es unter seiner Würde, sich anderen Gesetzen zu unterwerfen als denen, die er sich selbst gegeben hat und die die Prüfung durch seine eigene Vernunft bestanden haben. Wie wir in den Zitaten aus Picos „Oratio de hominis dignitate“ und Miltons „Paradise Lost“ gesehen haben, kann die biblische Botschaft sogar mit guten Gründen so gelesen werden, dass diese Freiheit des Menschen nicht auf dessen hybride Selbstermächtigung zurückgeht, sondern einem ausdrücklichen Willen Gottes entspringt. Dann aber verbleibt in der biblischen Schöpfungserzählung ebenso wie in Miltons Nacherzählung ein unausgeräumter Widerspruch: Wie begründet sich eigentlich das göttliche Verbot an den Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen? Gerade ein verantwortlicher Umgang mit der Freiheit setzt die Fähigkeit voraus zur Unterscheidung von Gut und Böse, von Richtig und Falsch sowie zur Beurteilung dessen, was in einer jeweiligen Handlungssituation zutrifft. Weder Unterscheidungsfähigkeit noch Urteilskraft aber sind möglich ohne Erkenntnisvermögen.9 Um Kants Formulierung zum Verhältnis von theoretischem Begriff und empirischer Erfahrung abzuwandeln: Freiheit ohne Erkenntnis ist blind; Erkenntnis ohne Freiheit ist leer. Die Erklärung, welche Milton stellvertretend für viele Interpreten für das Erkenntnisverbot mit den Worten des satanischen Gegenspielers und Menschenverführers anbietet, ist eines allmächtigen Gottes nicht würdig: „Nicht essen dürfen sie vom Baum, genannt / Erkenntnisbaum. Verboten ist Erkenntnis? / Verdächtig, seltsam auch. Warum missgönnt / Ihr Herr Erkenntnis? Kann sie Sünde sein? / (…) Ich entflamme sein Gemüt / Mit Drang nach Wissen und nach Übertretung / Des neidischen Verbots, erfunden nur, / Um niedrig ihn zu halten, den Erkenntnis / zur Gottgleichheit erhöbe.“10 Diese Erklärung ist nicht nur gottesunwürdig. Sie ist schlicht gegenstandslos. Denn die unaufhebbare menschliche Unvollkommenheit gilt auch für sein Erkenntnisvermögen. Es vermöchte folglich – selbst bei entsprechender satanisch-hybrider Absicht, die sich bekanntlich immer wieder in der Geschichte der Menschheit Bahn zu brechen versucht hat – der göttlichen Allwissenheit und damit auch seiner Allmacht prinzipiell keine Konkurrenz zu machen.

(8) Gegenseitige Anerkennung. Picos Stiftungsurkunde ist ferner fortgeschrieben worden mit Hegels Betonung der gegenseitigen Anerkennung der Würde ihrer Mitglieder als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, ja der menschlichen Gattung überhaupt. Wenn man diese Beziehung als tatsächlich „allgegenwärtig und abstrakt“11 – als universelle Zuerkennung von Würde unter Absehung von jeder individuellen, sozialen und kulturellen Besonderheit – denkt und praktisch gestaltet, dann eröffnet dies einen revolutionären und bis heute noch nicht annähernd zu Ende gegangenen Weg über die bisherige Dominanz von partikularen familiaren, sozialen und kulturellen Referenzen hinaus. Dieser Weg führt „vom homo hierarchicus zum homo aequalis12.

(9) Herr und Knecht. Aber Freiheit und Würde sind keine gutmenschengerechten Schönwetter-Veranstaltungen. Sie sind, mit Hegels kalt realistischen Worten über die Beziehung zwischen Herr und Knecht, grundsätzlich „eine gefährliche Errungenschaft: Nur wer das eigene Leben aufs Spiel setzt und den Tod der Unterwerfung unter den Willen eines anderen vorzieht, verdient sie. Sie stellt eine Feuerprobe dar, die die Menschen einer Auswahl unterzieht und sie unterteilt, in diejenigen, die fähig sind, zu herrschen, und diejenigen, die nur zu gehorchen imstande sind. Wer hingegen aus Unfähigkeit oder Feigheit das eigene Leben bewahren will und die Freiheit gegen das Überleben eintauscht, verdient es, geknechtet zu werden.“13 Wer Würde mitkonstituiert sieht durch Freiheit, muss sich also darauf einstellen, darum kämpfen zu müssen. Man hat es mit einer verwandten Konstellation dessen zu tun, was Carl von Clausewitz in „Vom Kriege“14 beschreibt: Der Krieg beginnt nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung. Sprich: Würdeverletzende Beherrschung beginnt mit der Bereitschaft zu würdeverletzender Unterwerfung. Eine ähnlich manichäische Sicht der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich als nüchterner Realismus ausgibt, findet seit jeher Widerhall bei namhaften Denkern wie Thomas Hobbes, Carl Schmitt oder Ernst Jünger und ihre Geistesverwandten, nicht zuletzt übrigens auch in manchen religiösen, etwa alttestamentarischen oder muslimischen Schriften. Auch hat sie über lange Phasen der Menschheitsgeschichte hin das reale Geschehen maßgeblich mit bestimmt.15 Gleichwohl trägt sie das Zeichen historischer Überlebtheit auf der Stirn. Sie hat zudem niemals in der bekannten Geistesgeschichte das Denken allein bestimmt. Mit wachsender Zivilisierung der gesellschaftlichen Beziehungen und Differenzierung des Denkens ist sie abgelöst worden durch vielschichtigere Wahrnehmungs-, Deutungs- und Gestaltungsmodelle des gesellschaftlichen Lebens. Gänzlich verschwunden jedoch ist diese Sicht nicht. Und sie macht, wie wir sehen werden, nach wie vor einen der Pfeiler dessen aus, was unser Verständnis von Würde bestimmt.

(10) Homo generosus. Hinter jenes humanistische und aufklärerische Insistieren auf der allgemeinen Geltung von Eigensinn, Eigenmächtigkeit und Eigenverantwortung menschlichen Handelns also, wie es in These (5) umrissen worden ist, will in modernen zumindest westlichen Gesellschaften – bei allem Respekt vor deren Schwierigkeiten und Grenzen und ohne hybriden Übermut – kein ernsthafter Teilnehmer des öffentlichen Diskurses mehr zurück. Dieses Beharren eröffnet und verteidigt unvergleichliche Handlungsspielräume, stellt aber zugleich auch hohe Anforderungen an jeden einzelnen Menschen. Es wirft allerdings die Frage auf nach der Würde derjenigen Menschen, bei denen die Fähigkeiten zum Bestehen eines solchen Kampfes insuffizient sind: Kinder mit erst heranreifenden und Alte mit schwindenden physischen und geistigen Kräften, Kranke, Behinderte, Antriebsschwache und Unehrgeizige. Hegels Verweis auf die unerbittliche Dualität von Herr und Knecht ist zu einfach und greift hier nicht.

Diese Frage beantwortet sich vielmehr grundsätzlich durch das Weitergelten jener gegenseitigen Anerkennung aller durch alle als eines Aktes dessen, was in der Sozialphilosophie als der „homo generosus“16 beschrieben wird. Dessen wohltätige Leistungen wirken zwar nicht umfassend und zuverlässig, weil die Disposition der Menschen dazu stets im Widerstreit mit anderen Dispositionen steht. Aber er bewirkt immerhin, dass wohltätiges Handeln nicht stets nur gleichsam einer strikt dagegenstehenden „natürlichen Natur“ des Menschen abgerungen werden müsste und damit nur Heiligen offenstände. Die „Aktion Mensch“ hat eine Zeit lang um Unterstützung für ihre Ziele zur Förderung von Behinderten mit der Botschaft geworben: „Man ist nicht behindert. Man wird behindert.“ Eine solche Deutung kann sich zwar auf eine allzugroße Vielzahl von entsprechenden empirischen Erfahrungen stützen. Sie fördert gleichwohl eine sträfliche Fehleinschätzung – sträflich deshalb, weil sie die in der Natur des Menschen auch angelegten, dem homo generosus entgegenstehenden, gleichsam animalischen, zumindest atavistischen Dispositionen unterschätzt. Die Würde aller, also auch der Behinderten, anzuerkennen und durch besondere Unterstützung auch praktisch zu respektieren, hebt den Menschen aus seiner natürlichen Umgebung ab. Sie ist eine besondere, auch ihrerseits anerkennungswürdige und keineswegs selbstverständliche Leistung jener Homo-generosus-Seite des Menschen. Statt also Behinderte in ihrem oft heroischen Kampf um eine menschengerechte Lebensführung allein als Opfer ihrer (un-)menschlichen Umwelt darzustellen, wäre es angemessener, diese menschliche Umwelt zu noch größerem Engagement auf diesem Feld durch ausdrückliche Anerkennung des hier jeweils schon Geleisteten zu animieren und zu ermutigen.



Humanität erhebt höhere Ansprüche und ist mit höheren moralischen Kosten verbunden, als es sich ein wohlfeiles schlicht-harmonistisches Gutmenschentum vorzustellen bereit ist. Die negativen Konnotationen, die sich mit diesem Begriff des Gutmenschen verbinden, beziehen sich selbstverständlich nicht auf sein – begrüßenswertes! – Beharren auf der Pflicht zur Mitmenschlichkeit. Sie beziehen sich vielmehr aus seine – kritikwürdige! – Unterschätzung ebenjener Fähigkeiten zur Unmenschlichkeit, die in der Natur des Menschen ebenfalls angelegt sind und die nur mit großer permanenter individuell-moralischer und institutionell-rechtlicher Anstrengung beherrscht werden kann. Denn nicht nur irren, sondern auch „unmenschlich“ zu sein ist menschlich! Jedenfalls aber macht, wie wir im weiteren sehen werden, auch diese Seite des Förderungsanspruchs von schwächeren, weniger durchsetzungsfähigen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft einen zweiten Pfeiler dessen aus, was unser Verständnis von Würde bestimmt. Zusammengenommen mit dem in These (7) entworfenen Szenario wird dies auf das Bild von einem Spagat zwischen zwei sehr unterschiedlichen Facetten des Würde-Begriffes hinauslaufen.

(11) Ostasiatische Philosophie: Selbst in der der westlichen Philosophie oft als so fremd dargestellten ostasiatischen Philosophie schließlich findet sich schon sehr früh ein differenziertes Würde-Bild. So z.B. schon bei dem altchinesischen Denker Mengzi („Menzius“), dem zweiten Genius der konfuzianischen Schule nach Konfuzius, der heute wieder eine sehr große Rolle spielt in der Diskussion, was ein moderner Konfuzianismus jenseits seiner Vereinnahmung durch die Politik sein könnte. Mengzi schreibt dem Menschen und nur ihm mit seiner Natur die Verfügung über eine besondere Würde zu: Er beschreibt explizit, „dass im Unterschied zu den politischen Würden, die von Herrschern verliehen werden, diese besonderen Würden weder verliehen noch wieder genommen werden können, da sie in der angeborenen menschlichen Natur bestehen. Mit seinem guten moralischen Vermögen hat der Mensch also etwas Würdiges in sich oder eine Würde in sich selbst, und diese steht höher als die Würden, die ihm von einem Machthaber verliehen oder genommen werden können. Es ist diese Würde dieser menschlichen Natur, die ihn zu moralischem Handeln und Urteilen befähigt.“17

3. Spagat zwischen zwei unterschiedlichen Facetten des Würde-Begriffes
(12) Januskopf. Nach diesen Ausflügen in die Geistes-, Kultur- und Politikgeschichte wollen wir uns unserem Thema nun durch eine Reihe von phänomenologischen Beobachtungen und Impressionen nähern. Sobald man sich bemüht, aufmerksam und etwas genauer in seinen Bedeutungskreis hineinzuhorchen, zeigen sich unerwartete, eigentümliche Unschärfen und Unstimmigkeiten. Je intensiver man sich darauf einlässt, desto deutlicher schält sich heraus: Würde trägt ein Doppelgesicht. Auf ihrer einen Seite verkörpert Würde eine Aura von Unanfechtbarkeit aufgrund der Suggestion von herausgehobener Erwähltheit. Auf ihrer anderen Seite verkörpert Würde eine Anerkennung der grundsätzlichen menschlichen Imperfektion, die Einsicht, dass erst Fehlbarkeit den Menschen zum Menschen macht; sowie ein – je nachdem: aktiver oder passiver –, jedenfalls aber heroischer Umgang mit der Unvollkommenheit, ein Ringen um die punktuelle Überwindung oder ein stoisches Ertragen dieser Unvollkommenheit. Unser Verständnis von Würde lebt von der Spannung, die zwischen diesen beiden Polen herrscht.

(13) Zivilisatorischer Fortschritt? Die Würde des Menschen ist nicht nur das Alpha und Omega der deutschen Verfassung, hier quasi als Wiedergutmachung für die entsetzlichen Verbrechen des vorangegangenen Tausendjährigen Reiches. Sie ist heute – zumindest verbal – ein universell unbestritten positiver Wert. Ihre Verletzung ist durch das Völkerrecht, die Verfassungen der meisten Staaten der Welt und zahlreiche Konventionen geächtet, was allerdings weiterhin nicht gleichbedeutend ist ihrem verlässlichen praktischen Ausschluss.

Den zahlreichen geschichtspessimistischen und kulturkritischen Zweiflern kann man – bei aller auch weiterhin begründeten Skepsis – einen vergleichenden Blick auf das gerade erst vergangene Jahrhundert entgegenhalten. Einen Blick zum Beispiel auf die lange Liste derjenigen großen Menschengruppen, denen noch vor historisch extrem kurzer Zeit weithin nicht die volle Würde des Menschen zugebilligt wurde: Frauen, Farbige, Homosexuelle, Behinderte, Nichtehelich-Geborene, Gesetzesbrecher, Kriegsverlierer, Fremde, Andersgläubige, politische Oppositionelle und noch manche andere mehr. Daraus ist zu lernen, dass man sich hüten sollte, Skepsis über das Erreichte und Erreichbare sowie das unablässige Ringen um den Erhalt von kulturellen und sozialen Errungenschaften zu verwechseln oder gar zu ersetzen durch Geschichtspessimismus, Unheils- und Niedergangsprophetien.


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