Spiritualität im Gespräch
im Dom-Forum Köln
am 29. 10. 2013
Spiegelungen
Impulse aus darstellender Kunst, Literatur und Musik
Spiritualität in Literatur und Dichtung
des 20. Jahrhunderts
Konversionen und Verwandlungen
Werner Bergengruen und Peter Handke
Trompetenimprovisation zu
„Alles meinem Gott zu ehren“ (GL 615)
Werner Bergengruen
(eingedenk Ingeborg Zanders, geboren 8.10. 1921 – gestorben 9.8. 2013)
Leben
Geboren am 16. September 1892 im livländischen (damals russischen) Riga. Sein Vater, Paul Bergengruen ist ein deutsch-baltischer praktischer Arzt, hat Vorfahren aus Schweden, die ins Baltikum auswanderten, seine Mutter Helene Boetticher.1903-1908 Katharineum Gymnasium in Lübeck. 1909 zieht die Familie nach Marburg/Lahn. 1911-1914 studiert Bergengruen Evangelische Theologie, Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte in Marburg, München und Berlin (ohne Studienabschluss). Im ersten Weltkrieg 1914-1918 als Ulan Soldat auf deutscher Seite. Danach bis 1919 bei der Baltischen Landwehr.
1919 heiratet er Charlotte Hensel, eine Nachfahrin von Moses Mendelssohn.
Beginn journalistischer Tätigkeiten in Tilsit, Memel, Berlin; Veröffentlichung von Romanen. 1922-1925 Wohnsitz in Berlin. Bis 1930 kommen vier Kinder zur Welt, Olaf, Luise, Maria, Alexander.
1936 konvertiert Bergengruen, im 44. Lebensjahr, zur römisch katholischen Kirche.
1936-1942 Wohnsitz in Solln bei München.
Bergengruen steht dem Nationalsozialismus (wie sein enger Freund Reinhold Schneider) ablehnend gegenüber – eher aber in der Weise der Emigration ins erhofft unverfügbar Innere.
Seine Frau ist nach den Nürnberger Rassegesetzen der Nationalsozialisten „Dreivierteljüdin“.
1937 wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wegen des Romans „Der Großtyrann und das Gericht“. Es ist sein erfolgreichster Roman mit über einer Million verkaufter Exemplare. Der Roman wird als versteckte Abrechnung mit dem Nazi-Regime verstanden. Er darf zwar weiter publizieren, dennoch werden Bücher wie „Der ewige Kaiser“ und „Am Himmel wie auf Erden“ 1940 verboten. 1942 wird das Haus in Solln durch eine Luftmine zerstört. Die Familie übersiedelt nach Achenkirch in Tirol in das Jagdhaus von Freunden.
1945 sagt Bergengruen - nach dem Ende des 2. Weltkrieges: „Niemand darf sagen, er habe von den Greueln nichts gewusst. (…) Was in den Konzentrationslagern geschah, das wusste jeder, wenn er nicht Gehör und Gesicht gewaltsam verschloss.“11946 gehen Bergengruens Buchrechte an den Arche-Verlag in Zürich.
1946-1958 Wohnsitz in Zürich. 1948/49 im Winter in Rom. 1948 Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig.
1952 erscheint sein bekanntester Nachkriegsroman „Der letzte Rittmeister“, in dem er das Industriezeitalter skeptisch beurteilt und das „normierte Verhalten“ in der Gesellschaftsentwicklung verurteilt.
1958 Rückkehr nach Deutschland (Baden-Baden). Ehrendoktor der Universität München, Aufnahme in den Orden „Pour le mérite“. 1962 Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg. Mitglied bedeutender Akademien für Künste, Sprache, Dichtung und Wissenschaft.
Bergengruen stirbt am 4. September 1964 in Baden-Baden.
Seit 1923 zahlreiche Bucherscheinungen, Geschichten, Romane, Novellen, Erzählungen, Werke fürs Theater, Sagen, Gedichte, Kinderbücher, Reisebücher.
Mit den Werken aus dem Nachlass über 100 Bucherscheinungen in beinahe allen literarischen Kategorien.
Spiritualität
Spiritualität – das könnte bezeichnet werden als das, was einen Menschen unbedingt, herzmittig, angeht.
Bergengruens Spiritualität ist geprägt vom begnadeten „Sprung in den Glauben“ - über den Schatten der eigenen Existenz in eine Öffnung für die Heilswirklichkeit Gottes. Ein Nonkonformist auch hier – die Außenwelt nur als das Grobbild der Dinge; im Seelengrund des Menschen liege das Eigentliche, Unzerstörbar-Ewige.
Im letzten Kriegsjahr, im Sommer 1944, schreibt er einen knappen Gedichtzyklus unter dem Titel „Dies Irae“ (Tag des Zornes), also einen poetischen Reflex auf den zweiten Teil des Requiems der katholischen Totenmesse.
17 Gedichte, die die Katastrophe des Weltkrieges reflektieren, den Verführungswahn des Nationalsozialismus und seines Regimes – und die darin den Abhub dennoch zu finden suchen in die rettende Gegenwelt gläubiger Existenz, göttlicher Erlösung.
Das 15. Gedicht heißt „DIE HEILUNG“, acht Zeilen, die mir symptomatisch erscheinen für das, was Bergengruen bewegt und was er zusagen, ausschreiben, öffnen will:
„DIE HEILUNG
Die letzte Not wird nicht mehr überwunden.
Sie selber will schon Überwindung sein.
Und in die berstenden Rotunden (Rotunde: Baukörper auf kreisförmigem Grundriss)
stürzt brausend schon das neue Licht herein.
Wir aber binden die verhängten Mächte,
vom Unausdeutbaren ereilt,
wenn wir im Niedrigsten der Henkersknechte
den Engel finden, der uns heilt.“2
Es ist seine poetische Aufnahme des Sprunges vom Karfreitag in den Ostersonntag, in der Tiefenverdunkelung die unendliche Öffnung zu glauben.
Diese Dichtung wurde von der „Gruppe 47“ dann bald als überpathetisch, zu groß im Wort, zu zeitenthoben kritisiert. Bergengruen wurde bald nach dem Krieg wieder Außenseiter, konfessionell orientierte Dichtung mit Argwohn gesehen.
Bergengruen bleibt seiner Linie jedoch treu. Sein Gedichtband von 1962 „Die heile Welt“ beharrt, trotz der Tiefenerschütterungen durch Auschwitz, Hiroshima und Nagasaki – die einer ganzen Generation das Weitermachen der Kunst in überkommenen Bahnen gänzlich unmöglich machte -, auf seiner Spannung des erdverhangenen Menschen als Gefäß für den Einbruch des göttlich verwandelnden Lichtes:
„BESTIMMUNG
Ich bin nicht ich. Ein Glas trägt meinen Namen
und wehrt sich keinem Strahl.
Kein Gitterwerk, kein Vorhang und kein Rahmen
beschränkt des Lichts gewaltiges Bacchanal.
Die Scheibe ist gedehnt zum Grenzenlosen
und doch zu schmal.
Von abertausenden Apotheosen
fasst sie nur eine allzu karge Wahl.
Strömt, Farben, ein! Braust, Bilder, an und glimmt!
Euch, Hochgelobte, aufzufassen,
euch rühmlich, ungetrübt hindurchzulassen,
bin einzig ich bestimmt.
Das Glas ist nichts.
Und sollte denn die Scheibe einmal splittern,
in jeder Scherbe würde weiterzittern
die ganze Herrlichkeit des ganzen Lichts.“3
Etwas zuletzt Unangefochtenes steht im Schreiben Bergengruens; dieses Stehen in einer Ordnung, die einer ewigen Idee gleicht und von den Ereignissen der Geschichte im Kern wie unberührt erscheint.
Gefährdungen - ja, Anfechtungen - sicherlich, tiefste Nöte – aber nicht der Zivilisationsbruch, der alle überkommenen Kategorien von Kunst infrage stellt.
Auch sein erfolgreichster Roman „Der Großtyrann und das Weltgericht“ agiert im oben genannten Schema. Als Allegorie auf das faschistische Regime in Deutschland gesehen, wenngleich schon Ende der 20er Jahre konzipiert und begonnen, wird hier der Verführbarkeit des Menschen angesichts eines totalen Regimes gedacht.
Zunächst noch erlaubt, wurde das Buch von der Reichsschrifttumskammer 1937 verboten.
Dem Roman vorgestellt ist die Bitte des VATER UNSER: „Ne nos inducas in tentationem“ („und führe uns nicht in Versuchung“). In einem imaginären Reich tötet der Großtyrann einen Menschen (dies wird erst zum Ende sichtbar) und verlangt von seinen Untergebenen die Aufklärung des Mordes (bei Nichterfolg unter Androhung der Tötung oder herber Bestrafung der Untergebenen). Diese versuchen nun mit allen Möglichkeiten, irgend einen Schuldigen auszumachen (der Großtyrann selber ist ja unantastbar) und verstricken sich in ein Geflecht von Lüge, Verrat, Hintergehen, Liebesverlust, Denunziation, Verdächtigungen, Rufmord – alle Figuren des Romans erweisen sich im Kern ihrer Person als verführbar, willig, alle heiligen Prinzipien über Bord zu schmeißen, um der Rettung der eigenen Person willen. Schließlich (es ist auch eine Christusallegorie enthalten) will ein völlig Unschuldiger, ein einfacher Färber, dem Treiben Einhalt gebieten, nimmt die Schuld auf sich und will das Gericht an sich vollziehen lassen, damit wieder Friede im imaginären Staat einkehre.
Erst da offenbart zum Ende der Großtyrann sich als der eigentliche Täter, der nur zur Prüfung aller dieses perfide Spiel geweckt hatte. Ein fader Geschmack bleibt. Knüpft Bergengruen, über den totalitären Herrscher hinaus, nicht auch an eine erschütternde Grundfrage an? Hat DER Souverän schlechthin, als der Gott angesehen wird, vielleicht nicht auch nur ein monströses „SPIEL“ angezettelt, um zu schauen, wie wir Menschen mit unserer Freiheit wirken, uns verfangen, scheitern, vielleicht gebrochen bestehen?
Knüpft er hier nicht an Calderons „großes Welttheater“ an, das heute jedoch kaum mehr unbefragt bestehen kann: Welt und Leben als ein großes Spiel vor ewiger Kulisse, ewigem Hintergrund? Hat Gott nicht skandalös zu viel gewagt, als er solches in Gange setzte – angesichts der unermesslichen Geschichte des Leidens und Sterbens, der Massenmorde an Millionen?
Der Lösungsspruch scheint der cantus firmus des Buches zu sein, der viele Male angerufen wird: „Es ist nichts vielförmiger als die Liebe“4. Ob er als Geschehen durch tragen wird?
Bei Bergengruen ist die Ordnung noch eindeutig: „dass alle Liebe mit der Änderbarkeit ihrer Gestalt auch von der Änderbarkeit ihres Wesens nicht frei ist und somit unter jener großen Frage steht, unter die Gott alle irdischen Dinge, die sichtbaren, wie die unsichtbaren, beschlossen hat.“5
Sind aber die „ewigen Maßstäbe“ nicht allesamt in eine Verzwiespältigung geraten – Schuld alles Erschaffenen – Schuld dessen, der so erschafft, mit solchen möglichen Desastern der Freiheit...?
Bergengruen glaubt an das letzte Durchdringende im Lieben.
Er hält da hinein die Aporien und Widersprüchlichkeiten, die auch bis an die Gottanfechtung reichen – für ihn aber nicht hindurch!
„Vielleicht müssen wir es so nennen. Es besteht ja alles Lebendige nur durch den Widerspruch in ihm selber. Und obwohl gewiss Gott an sich und in seiner Wirklichkeit gerade das ist, was keinen Widerspruch hat, sondern Spruch und Widerspruch in einem und der einzige, in dem keine Unterscheidung des offenbaren und des heimlichen Willens stattfindet, so bleibt unseren Augen doch dieses eine zu schauen verwehrt; höchstens, dass es unserem Herzen in seltenen Augenblicken zu ahnen erlaubt wird. Dies möchte ich wohl glauben, doch gestehe ich, hierin keine eigene Erfahrung zu haben. Und so müssen wir denn Gottes Widersprüchlichkeit – von der ich wohl weiß, dass sie nicht vorhanden ist – dennoch als etwas Vorhandenes hinnehmen, denn anders können wir nicht handeln.“6
Peter Handke
Leben
Ich spreche über einen lebenden Menschen – Peter Handke wurde gerade 70 Jahre alt!
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Altenmarkt 25, Gemeinde Griffen, geboren. Die Mutter, Maria Handke, geb. Situz, stammt aus einer slowenischen Familie aus Kärnten. Ihr Mann, Bruno Handke, ein in Kärnten stationierter Soldat, kommt aus Berlin. Peter Handkes leiblicher Vater ist der deutsche Soldat Erich Schönemann, dem Handke erst 1961 begegnen wird.
Zwei Brüder (Hans und Gregor) von Handkes Mutter fallen im 2. Weltkrieg.
Wechselnde Wohn- und Fluchtorte prägen Handkes Kindheit: Berlin, wieder Griffen, wieder Berlin, nach dem Krieg flieht die Familie, nach der Geburt von Handkes Schwester Monika 1947, aus dem Ostsektor Berlins wieder nach Kärnten. 1949 wird dort Handkes Bruder Hans Gregor geboren, 1957 sein Bruder Robert. In diesem Jahr zieht die Familie in das in gemeinsamer Arbeit erbaute Haus, Altenmarkt 6.
Stift, Kirche und Friedhof von Griffen prägen sich Handke tief ein. Die Kirche des Ortes mit seinem Bildprogramm bilden eine frühe Dreiheit in ihm ab: Kirche als Ort des Buches, der Schrift, der Bilder.7
1954 besucht Handke das bischöfliche Seminar Tanzenberg, humanistisches Gymnasium und katholisches Internat. 1959 erscheint Handkes erster Text „Der Namenlose“ in der Kärntner Volkszeitung. Im selben Jahr „flieht“ Handke aus dem katholischen Internat und wird Schüler des Bundesgymnasiums Klagenfurt, wo er 1961 Abitur macht. Er beginnt ein Jurastudium in Graz.
1963 Arbeit an seinem ersten Roman „Die Hornissen“, der 1966 im Suhrkamp-Verlag erscheint. Ein Diskussionsbeitrag bei der „Gruppe 47“ in Princeton/USA (seine Polemik gegenüber der „realistischen Gegenwartsliteratur“, die er als „beschreibungsimpotent“ denunziert) macht ihn wie über Nacht berühmt.
Er erfährt den Wirklichkeitsverlust durch alltägliche Sprachformen, die ihm nichtssagend sind: Wortschluckersprache – berührungslos; Wörter, die nicht mehr sagen, was sie meinen!
Seine Theaterstücke „Publikumsbeschimpfung“ und „Kaspar“ (1966-1968) – enorm sprachkritisch-sprachphilosophisch- machen ihn zum Kultautor.
1967 heiratet er Libgart Schwarz. Ihre Tochter Amina kommt nach dem Umzug nach Berlin 1969 zur Welt.
Im Jahresrhythmus erscheinen nun literarische Werke von Handke in allen Gattungen: Romane, Erzählungen, Gedichte, Theaterstücke, Notizbücher, Rezensionen, Übersetzungen, ein Kinderbuch, Mitwirkung am Petrarca-Preis, Filmmanuskripte, vor allem mit und für Wim Wenders- besonders bekannt wurde „Der Himmel über Berlin“ (ähnlich wie bei Bergengruen ist Handke kontinuierlich schreibend-veröffentlichend).
1971 zieht er mit seiner Familie in ein eigenes Haus in Kronberg/Taunus. Im selben Jahr USA-Reise.
In der Nacht vom 19. zum 20. November 1971 nimmt Peter Handkes Mutter Maria sich das Leben.
1972 gedenkt Handkes dieser persönlichen Katastrophe (seine Mutter ist der geliebte Mensch seiner Kindheit, Jugend und seiner frühen Schriftstellerjahre) mit dem, für mich sehr bewegenden, Buch „Wunschloses Unglück“.
1973 erhält er sehr jung (mit gerade 30 Jahren) den Georg Büchner Preis, die höchste Auszeichnung in der deutschen Literaturszene. Er wird diesen Preis 1999 zurück geben, nachdem deutsche Truppen bei der Bombardierung Serbiens und des Kosovo mitgewirkt hatten.
1973 siedelt Handke mit seiner Tochter Amina nach Paris. Seine Frau bleibt in Berlin.
1978 reist Handke in den Norden Amerikas und nach Alaska. Dort schwerste Lebens- und Schreibkrise. Ein Aufenthalt bei Hannah und Hermann Lenz (ein älterer Autor, den der ganz junge Handke durch eine Rezension erst bekannt gemacht hat) befreit ihn aus der Krise.
Literarisch überwindet er sie durch einen Neuansatz im Leben und Schreiben mit dem Buch „Langsame Heimkehr“ 1979. In diesem Jahr erhält er den Kafka-Preis.
Handke ist philosophisch, ähnlich wie Goethe, Hölderlin und Heine, inspiriert vom Denken des Baruch de Spinoza (1632-1677), dessen Denken gleichsam eine „leibfreundliche Kirche“ erscheinen lässt. Das Denken und Schreiben Handkes ist, auch von dort her, raumbezogen (dieses Augenfest, den Anfang von „Langsame Heimkehr“ zu lesen, wo Spinozas Denken wie subkutan allgegenwärtig zu sein scheint8), findet alles in der einen Welt – und schreibt an gegen die lähmende Trauer, die unser Sein mindert.
Siehe von da her auch seine an Spinoza orientierte Übertragung: „ Die Aufschrift: ‚La utopia non exist‘ übersetzt mit: ‚Den Nicht-Ort gibt es nicht‘9.Das SURSUM CORDA „EMPOR DIE HERZEN/ ERHEBET DIE HERZEN“ der katholischen Liturgie ist ein Leitmotiv seines Schreibens, stets auf der Suche nach dem, was ein HERZAUFGEHEN gibt, was aus der Welt aufblicken, aufstehen, lichten lässt.10
1986 „Gedicht an die Dauer“ und der Roman „Die Wiederholung“.
1987 tritt Handke, nach dem Abitur der Tochter, eine Weltreise an. 1988 stirbt sein Stiefvater Bruno.
1990 Beziehung mit der Schauspielerin Sophie Semin und Kauf eines Hauses in Chauville an der Peripherie von Paris.
1991 Geburt der gemeinsamen Tochter Leocadie.
Handke engagiert sich schreibend und durch öffentliche Bekundungen während des Balkan-Krieges für Serbien. Sein Serbien Reisebericht 1996 (erschienen in der SZ) erfährt weltweite Reaktionen in den Medien, zumeist polemischer Art. Handke wird auch von der Politikerszene aus fast allen Parteien attackiert.
2002 erscheint der „Bildverlust“.11
Jährlich eine oder mehrere Veröffentlichungen, darunter auch (seit 1990) die Reihe der „Versuche“ (über die Jukebox, über die Müdigkeit, über den geglückten Tag, über den Stillen Ort, über den Pilznarren – letzteres gerade erschienen). Es sind Versuche über das tapfere Glück! Immer wieder sein Vermerk über den Adressaten seiner Bücher: „Für den/die, den/die es angeht“!
Ende offen.
Spiritualität
„An den Morgen
Aufgewacht vor dem morgenhellen Himmel:
Über die noch dunklen Dächer
treibt aus den Kaminen schon langsamer Rauch
Die Vögel: Sine fine dicentes (ohne Ende singsagend)
Und alle Lieben leben“12
Peter Handke
Peter Handkes Weg ist vom langen Suchen nach dem tragfähigen Wort, vom Suchen nach der verlorenen Kohärenz (dem Zusammenhang) geprägt. Ständiges Neuansetzen, nicht sich einfrieren in den Jargon einer Schreibe (während Thomas Bernhard 40 mal in etwa dasselbe Buch in Varianten geschrieben hat), vielmehr im neuen Buch das alte zu überwinden, damit nicht wieder dieses „words, words, words“ (Shakespeares „Hamlet“) entsteht, sondern das Wort, das dem Gegenstand entspricht, die Erzählung, die Wirklichkeit aufschließt, statt im Sprachspiel blindleer sich zu verfangen. „Handke versucht, sich in jedem Werk von seinem vorhergehenden loszusagen. Spätestens seit der „Publikumsbeschimpfung“ wird jede seiner literarischen Arbeiten zu einem Affront, sowohl gegen sein Publikum als auch gegen die eigene Position des bereits erreichten, gegen die drohende Manier, gegen sein letztes Buch. Mit jeder neuen Herausforderung seiner Leser widerruft und verlässt er zugleich seine Vergangenheit; mit jedem Schlag nach vorne stößt er sich von seinem eigenen Hintergrund ab.“13
Das je Übergängliche von Sprache und Schreiben ist ein tief spirituelles Motiv des Verwandelns, der Wahrnehmung, dass auch unsere Gottrede immer übergänglich, transitiv, transformativ sich zeige, damit nicht Gottrede ins Eigensystem sich erstarrt, sondern das Offene und Unabschließbare ihres Wesens erscheine.
Aus der Sprachnot, aus den gesellschaftspolitischen Beständen stummer Gewalt, die Menschen (wie seine Mutter) zum Requisit erdrosselt, sprachlos, wunschlos macht, in Trauer und Angst zerdrückt in Ritualen, Rollen zum Mitspielen genötigt, befreit Handke sich in einer Poetik des genauen Wünschens und des Glücks, die nicht mehr allein dem Aufzeigen des verstellten Lebens sich widmet, vielmehr Eigenes und Allgemeines, aus dem Staunen über die Sprache der Dinge, das Beglückende scheinbar alltäglicher Erscheinungen, zur konkreten Gestalt von Daseinsfreude erstehen lässt, wie in Momentmodellen gelungenen Lebens - „die gewünschte Existenz, das wäre das vernünftige Glück, das von der Umwelt nicht abschließt, sondern für sie öffnet und aufmerksam für die anderen bleibt.“14
Das ist nicht nur poetisches Programm, es ist Ethik und politisches Manifest in eins.
Der, vielleicht, entscheidende Satz im Werk der 2. Lebenshälfte Peter Handkes, auf den er sich nach seiner tiefsten Krise als Mensch und Schreibender 1978/1979 immer wieder beziehen wird, ist der wie zum NEUANFANG des wieder gefundenen ERZÄHLENS gefügte Anfang von „LANGSAME HEIMKEHR“ über seinen Protagonisten Sorger. Ein Satz, der, wie nach Karfreitag und noch mehr Karsamstag, eine Öffnung für österliches Licht frei gibt, ein Licht jedoch, das nunmehr in alltäglichen Meditationen gewahrt zu werden bedarf, in der Anwendung der Sinne auf alles Erscheinende, zunächst je in den alltäglichen Handhabungen, die gemessen und achtsam zu wahren sind: „Sorger hatte schon einige ihm nah gekommene Menschen überlebt und empfand keine Sehnsucht mehr, doch oft eine selbstlose Daseinslust und zuzeiten ein animalisch gewordenes, auf die Augenlider drückendes Bedürfnis nach Heil.“15
In dieser Verwandlung von lähmender Trauer und Angst in suchende Freude, mit Worten, die in deutscher Sprache Jahrzehnte nach Hitler wie ungeheuer erschienen - „Daseinslust, Bedürfnis nach Heil“, beginnt die große Verwandlung in Handkes Schreiben, die bis in die Gegenwart anhält – und die keineswegs ihn zu einem kritiklos-schmerzunempfindlich-apolitischen Autor werden lässt.
Aber es ist, als wäre ein Vorzeichen verwandelt, eine VOR-FORM wieder gefunden, ein Zutrauen in die Wahrnehmungsformen in der einen Welt.
Poetisch-spirituell-theologische Verwandlungsspuren aus Handkes Notizbuch „Gestern unterwegs“ will ich nun zitieren – und in der Montage der Zitate so etwas wie einen spirituellen Weg aufscheinen lassen, in dem (auch) die jüdisch-christliche Traditionstradierung im Vernehmen anverwandelnd ins Eigene Handkes gelangt und, wie auf einer Wahrnehmungsschwelle, wieder ins Worten von Wirklichkeit zurück findet, finden soll, um sprechend zu werden. SPRACHE ALS LEBENSFORM – auf der Suche nach dem grenzüberschreitenden WORT:
„Manchmal, in den großen Augenblicken, da die Formen und die Farben, vor allem die vielfältigen Grüns, mir entgegenkommen, - leuchten, denke ich: ‚es gibt einen Gott!‘ – und schrecke zugleich zurück wie bei einer Gotteslästerung“16
„Die Geschichte Jesu als eine dramatische Entdeckungsgeschichte: die Entdeckung des Göttlichen in sich – die wiederum zum Menschendrama an sich führt“17 (Hier taucht der Kernsatz christlicher Spiritualität auf: Das Leben Jesu mit dem eigenen Leben leben.)
„Manchmal beim Lesen des Evangeliums: Jesus, der göttlich Wahnsinnige (selbst in seinen jähen scheinbaren Launen)“18
„Gott-selbst als der Bedürftige schlechthin, siehe auch Hölderlin … damit der Gott in mir nicht arm und verlassen bleibt (ungefähr)“19
„Ein Gott, nicht als der Allmächtige, aber als der Allessehende: so einen muss es doch geben – der uns alle, alle sieht, mich im Zimmer oder sonstwo, diese gelbgekleideten Eisenbahnarbeiter oder sonstwen, diesen sich zu seinem Gemüse Bückenden in seinem Schienennachbargarten“20
„Ein Gottesbeweis: die Augen mancher Kinder, momentweise; ein anderer Gottesbeweis: die Amsel durchs Unterholz stöbernd und dann aufschwirrend (11. März); und eine Entsprechung zu Gottes Stimme aus dem 'Säuseln' des Windes: Gottes Stimme im Trappeln von Kindersohlen beim Laufen (12. März)“21
„Und (…) der Auferstandene von Grünwald in Colmar, glühender Leib, auffahrend in der Finsternis, den ich als einen ‚neuen Planeten‘ sah, einen gerade erst geborenen, für allezeit – (15. Januar 1989)“22
„Nichts näher dem Göttlichen als die Sprache – die Möglichkeiten der Sprache“23
„Ich, der doch manchmal gereizt war, wie vieles bei Hölderlin das Beiwort ‚heilig‘ bekam, dachte gerade, in der Vordämmerung, angesichts der Straße, auf der ich einst, allein mit meinem Kind, gegangen war: ‚Man kann nicht genug vieles heilig nennen!‘ (Kronberg im Taunus, 10. November 1989)“24 (Vgl. hierzu das Zentrum der Spiritualität des Ignatius von Loyola: „Gott suchen mit allen Sinnen und finden in allen Dingen“).
„Poesie: die gestotterte oder episodisch sich offenbarende Religion (an die derjenige auch nur während des Stotterns glauben kann)“25
„ 'Warum liest du die Heilige Schrift?' - 'Um in mir das Licht des Erzählens zu erhalten; das Beben in der Erzählung'“26
„Mit dem Geliebten geh vorsichtig-behutsam (herrliches deutsches Wort) um, auch mit dem abwesenden Geliebten. Die Liebe wird gefährdet, wenn du in der Abwesenheit des Geliebten mit ihm ohne Behutsamkeit bist. Abwesenheit und Behutsamkeit ('und')“27
„‘Was möchtest du, Schreiber?‘ - ‚Offenlassen.‘“ 28
„Übersetze 'sursum corda!' einfach mit 'Auf!'“29
„Aufbrechen – gehen – Pfingsten feiern“30
„‘Lass, lass, lass, lass…‘: Lebens- wie Sterbegebet“31
Musik: Robert Schumann, Zwei Choralsätze aus Endenich (2 Minuten). Tobias Koch, Pianoforte.
Konzeption und Durchführung: Markus Roentgen
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