Samuel Hahnemann Organon der Heilkunst, Auflage



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§ 74


Zu den chronischen Krankheiten müssen wir leider! noch jene allgemein verbreiteten rechnen, durch die allöopathischen Curen erkünstelt, wie auch den anhaltenden Gebrauch heftiger, heroischer Arzneien, in großen und gesteigerten Gaben, den Mißbrauch von Calomel, Quecksilbersublimat, Quecksilbersalbe, salpetersaueren Silbers, Jodine und ihre Salbe, Opium, Baldrian, Chinarinde und Chinin, Purpurfingerhut, Blausäure, Schwefel und Schwefelsäure, jahrelange Abführungsmittel, Blut in Strömen vergießende Aderlässe 1),
Anm. 1) Es kann unter allen Methoden die zur Hülle für Krankheiten ersonnen worden, keine allöopathischere, keine widersinnigere, oder zweckwidrigere gedacht werden, als die, seit vielen Jahren über einen großen Theil der Erde verbreitete Broussaische Schwächungs-Cur durch Blut-Vergießen und Hunger-Diät, worunter kein verständiger Mensch sich etwas Aerztliches, etwas arzneilich Helfendes zu denken vermag, während wirkliche Arznei, selbst blindhin ergriffen und einem Kranken eingegeben, doch hie und da einen Krankheits-Fall besserte, weil es zufällig eine homöopathische war. Von Blut-Vergießen aber, kann der gesunde Menschen-Verstand nichts anderes als unausbleibliche Verminderung und Verkürzung des Lebens erwarten. Es ist eine jämmerliche, völlig grundlose Erdichtung, daß die meisten, ja alle Krankheiten in örtlichen Entzündungen beständen. Selbst für wahre örtliche Entzündungen findet sich die gewisseste, schnelle Heilung in Arzneien, welche die, der Entzündung zum Grunde liegende Gereiztheit der Arterien dynamisch hinwegnehmen, ohne den mindesten Verlust an Säften und Kräften, während die örtlichen Blut-Entziehungen, selbst an der krankhaften Stelle, in der Folge nur die Neigung zu wiederholter Entzündung dieser Theile vermehren. Und eben so ist es im Allgemeinen bei entzündlichen Fiebern zweckwidrig, ja mörderisch, viele Pfunde Blut aus den Venen abzuzapfen, da wenige, angemessene Arznei, oft in wenigen Stunden diese Gereiztheit der Arterien, welche das vorher so ruhige Blut jagt, sammt der zum Grunde liegenden Krankheit hinweg nimmt, ohne den mindesten Verlust an Säften und Kräften. Großer Blutverlust dieser Art ist auf die übrige Lebensdauer offenbar unersetzlich, indem die zur Blutbereitung vom Schöpfer bestimmten Organe dadurch so wesentlich geschwächt werden, daß sie zwar Blut in gleicher Menge, aber nie wieder in gleicher Güte zuzubereiten vermögen. Und wie unmöglich ist es, daß die eingebildete Plethora, die man durch gehäufte Aderlässe abzuzapfen verordnet, sich in so großer Geschwindigkeit erzeugt haben könnte, da doch der Puls des jetzt so heißen Kranken, noch vor einer Stunde (vor dem Fieber-Schauder) so ruhig ging? Kein Mensch, kein Kranker hat je zu viel Blut*,
* Anm. Der einzig mögliche Fall von einer Plethora, ereignet sich beim gesunden Weibe, einige Tage vor ihrer mondlichen Periode, wo dieselbe eine gewisse Fülle in ihrer Bärmutter und in ihren Brüsten spürt, ohne alle Entzündung.
oder zu viel Kräfte; vielmehr fehlt es jedem Kranken an Kräften, denn sonst hätte sein Lebensprincip die Entstehung der Krankheit abgewehrt. Also dem ohnehin schwachen Kranken, durch Vergießung seines Blutes noch eine größere, die ärgste Schwächung zu verursachen, die sich nur denken läßt, ohne seine Krankheit, die stets nur dynamisch ist und nur durch dynamische Potenzen gehoben werden kann, hinweg zu nehmen, ist so unsinnig als grausam, ist eine bloß mörderische Mißhandlung auf eine aus der Luft gegriffene Theorie gegründet.
Blutegel, Fontanellen, Haarseile u.s.w., wovon die Lebenskraft theils unbarmherzig geschwächt, theils, wenn sie ja nicht unterliegt, nach und nach (von jedes besondern Mittels Mißbrauche, eigenartig) dergestalt innormal verstimmt wird, daß sie, um das Leben gegen diese feindseligen und zerstörenden Angriffe aufrecht zu erhalten, den Organism umändern, und diesem oder jenem Theile entweder die Erregbarkeit oder die Empfindung benehmen, oder sie übermäßig erhöhen, Theile erweitern oder zusammenziehen, erschlaffen oder verhärten, oder wohl gar vernichten, und hie und da im Innern und Aeußern organische Fehler anbringen 2)
2) Unterliegt endlich der Kranke, so pflegt der Vollbringer einer solchen Cur bei der Leichenöffnung diese innern organischen Verunstaltungen, die seiner Unkunst die Entstehung verdanken, recht schlau, als ursprüngliches unheilbares Uebel den trostlosen Angehörigen vorzuzeigen; m. s. mein Buch: die Allöopathie, ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art. Leipz. bei Baumgärtner. Die anatomischen Pathologien mit Abbildungen, täuschenden Andenkens, enthalten die Produkte solcher jämmerlichen Verpfuschungen. Die, ohne solche Verpfuschung durch schädliche Mittel, an natürlichen Krankheiten verstorbnen Landleute und städtischen Armen, pflegt die pathologische Anatomie nicht zu öffnen. Und doch würde man nie in ihren Leichen solche Verderbnisse und Verunstaltungen finden. Hieraus kann man die Beweiß-Kraft jener schönen Abbildungen und die Redlichkeit dieser Herren Bücher-Schreiber beurtheilen.
(den Körper im Innern und Aeußern verkrüppeln) muß, um dem Organism Schutz vor völliger Zerstörung des Lebens gegen die immer erneuerten, feindlichen Angriffe solcher ruinirenden Potenzen zu verschaffen.

§ 75


Diese, durch die allöopathische Unheilkunst, (am schlimmsten in den neueren Zeiten) hervorgebrachten Verhunzungen des menschlichen Befindens, sind unter allen chronischen Krankheiten die traurigsten, die unheilbarsten und ich bedauere, daß, wenn sie zu einiger Höhe getrieben worden sind, wohl nie Heilmittel für sie scheinen erfunden oder erdacht werden zu können.

§ 76


Nur gegen natürliche Krankheiten hat uns der Allgütige Hülfe durch die Homöopathik geschenkt - aber jene, durch falsche Kunst schonungslos erzwungenen, oft jahrelangen Schwächungen (durch Blut-Verschwenden, Abmergelung durch Haarseile und Fontanelle) so wie die Verhunzungen und Verkrüppelungen des menschlichen Organisms im Innern und Aeußern durch schädliche Arzneien und zweckwidrige Behandlungen, müßte (bei übrigens zweckmäßiger Hülfe, gegen ein vielleicht noch im Hintergrunde liegendes, chronisches Miasm) die Lebenskraft selbst wieder zurücknehmen, wenn sie nicht schon zu sehr durch solche Unthaten geschwächt worden und mehrere Jahre auf dieses ungeheure Geschäft ungestört verwenden könnte. Eine menschliche Heilkunst, zur Normalisirung jener unzähligen, von der allöopathischen Unheilkunst so oft angerichteten Innormalitäten, giebt es nicht und kann es nicht geben.

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