„Trotz dieser Fortschritte muss man fragen, ob die Realisierung einer fundierten
lehrergesteuerten Individualisierung unter den derzeit herrschenden Bedingungen der
Schulpraxis wirklich möglich ist oder ob Skepsis angebracht ist. […] Zweifel, die dadurch
erhärtet werden, dass die wenigsten Lehrkräfte im alltäglichen Schulbetrieb die nötige Muße
finden, sensibel zu beobachten, zu diagnostizieren und zu beraten.“ (Helmke 2013, S. 35)
Der Autor geht in seinem Artikel abschließend auf Missverständnisse in Zusammenhang mit
Individualisierung von Lernprozessen ein. Er kritisiert unter anderem die Hypothese „je individualisierter
gelernt wird, desto besser“ und skizziert ein Szenario, in dem „alle Lernangebote passgenau auf den
individuellen Lerner zugeschnitten sind und den individuellen Lernfortschritten ständig angepasst werden“
(ebd. S. 36). Damit verbunden ist seine Sorge, dass die Heterogenität zwischen den Schüler/innen verstärkt
wird und eine „exzessive Individualisierung zu Vereinzelung führen würde […] und die Förderung sozialer
Kompetenzen“ (ebd. S. 36) keine ausreichende Basis mehr hätte.
Dieses Argument zeigt, dass die Definition des Bundesministeriums für Bildung auch auf andere Art
und Weise interpretiert werden kann. Deshalb ist festzuhalten, dass die bestmögliche Förderung und
Forderung von Schüler/innen auch die Entwicklung sozialer Kompetenzen und das kooperative Lernen
integrieren muss, da diese Faktoren für eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung wichtig sind
(Weilguny und Friedl 2012, S. 10). Zentrales Prinzip ist es in diesem Kontext, Stärken zu stärken und
Schwächen zu schwächen.
Der Begriff der Lernumgebung
Damit das Konzept der Lernumgebung für die empirische Erhebung operationalisierbar ist, muss der
bereits erwähnten Unschärfe des Begriffs eine entsprechend widerspruchsfreie und klare Alternative
entgegengestellt werden. Es handelt sich um keinen ausschließlich fachspezifischen Begriff, sondern er ist
im aktuellen Bildungsdiskurs ein vielfach verwendeter Terminus. Zahlreiche weitere, oft auch synonym
verwendete Begriffe wie Lernraum, Lernsetting, Lernarrangement oder Lernort lassen sich, was die
inhaltliche Deutung betrifft, nicht scharf voneinander abgrenzen. Es geht in der Folge daher auch um die
Frage, wie der Begriff so gefasst werden kann, dass er inhaltlich eindeutig und für die Gestaltung von Lehr-
/ Lernprozessen hilfreich ist.
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In der Literatur fehlt bisher diese Eindeutigkeit. Das heißt, die Scientific Community hat sich bisher
nicht festgelegt und es fehlen Hinweise, die einer bestimmten Interpretation einen klaren Vorzug geben
würden. So finden sich Publikationen, die zwar den Begriff der Lernumgebung im Rahmen ihrer
Argumentation verwenden, ihn aber nicht näher in seinen Eigenschaften erläutern. (vgl. dazu Reich et al.
2005; Stangl 2011).
Demgegenüber steht quasi das andere Extrem: Gar nicht so selten wird der Begriff „Lernumgebung“ als
Universalterminus verwendet, der alle Faktoren umfasst, die das Lernen beeinflussen können, allerdings
ohne jegliche spezifische Kategorienbildung, die für eine kontextuelle Klarstellung notwendig wäre. (vgl.
dazu Werner 2003; Wittwer et al. 2015, S. 106–107)
Quasi zwischen diesen extremen Positionen finden sich jene Autor/innen, die unter dem Begriff
„Lernumgebung“ ausschließlich die Merkmale subsumieren, die von dem/der Lehrer/in aktiv im Unterricht
beeinflusst werden können, wie beispielsweise Materialien, Aufgabenstellungen oder Medien. (vgl. dazu
Apel 2009, S. 262; Horstkemper 2014, S. 6; Kanwischer 2006, S. 126; Sitte 2001)
Bilanzierend kann festgestellt werden, dass für das vorliegende Forschungsvorhaben, insbesondere für
die empirische Erhebung, eine verwendbare Systematik der spezifischen, im Bildungsdiskurs verwendeten
Begriffe fehlt. Das bedeutet auch, dass die Vergleichbarkeit der vorliegenden Publikationen, die sich mit der
gewählten Thematik auseinandersetzen, zum Problem wird. Deshalb wird für diese Untersuchung
angestrebt, die genannten Begriffskonzepte entsprechend zu analysieren und daraus eine überprüfbare
Systematik zu schaffen.
Dazu wird in einem ersten Schritt eine möglichst umfangreiche Liste von Einflussfaktoren auf das
Lernen erstellt (Abbildung 1), um diese Faktoren anschließend in sinnvollen Kategorien zu systematisieren.
Die daraus entwickelten vier Dimensionen von Lernumgebungen (Abbildung 2) sind Raumqualitäten,
Organisationsstruktur, Didaktische Entscheidungen und Schul- und Lernkultur. Sie werden für das bessere
Verständnis anhand ausgewählter Beispiele in Kapitel 8-10 genauer beschrieben. Diese vorläufige
Kategorisierung dient primär als Basis für eine nachvollziehbare empirische Erhebung und wird dazu in der
Feldforschung zusätzlich auf ihre Sinnhaftigkeit und Praktikabilität getestet.
Mit der Verwendung derart vieler Faktoren, die notwendigerweise unter dem Begriff Lernumgebung
zusammenlaufen, besteht allerdings die Gefahr, alles erklären zu wollen und im Endeffekt nur unpräzise
Argumente präsentieren zu können. Durch den Anspruch eine Art Grundlagenforschung zu betreiben ist es
jedoch wichtig, den Begriff als Ganzes zu erfassen und damit für weiterführende Untersuchungen klar
definierte Forschungsbereiche zu definieren.
40
Abbildung 1: Mögliche Einflussfaktoren auf schulisches Lernen (eigene Darstellung 2013)
41
Abbildung 2: Dimensionen von Lernumgebungen (eigene Darstellung 2017)
42
3.2.2
Schritt 2: Formulierung der Forschungsfrage und Hypothesen
Mit der Konkretisierung semantisch gehaltvoller Begriffe kann nun die zentrale Fragestellung formuliert
werden:
Welche Lernumgebungen braucht es im Unterrichtsfach Geographie und Wirtschaftskunde, um
individualisierte Lernprozesse zu ermöglichen?
Mehrere Hypothesen dienen dazu, dass diese Fragestellung systematisch erhoben und angemessen
beantwortet werden kann. In der Formulierung der Hypothesen wird darauf geachtet, dass die vier
ausdifferenzierten Dimensionen von Lernumgebungen jeweils mit Elementen des Konzepts der
Individualisierung verknüpft werden.
Hypothese 1: Wenn das zeitliche Ausmaß einer Unterrichtsstunde in der Schule immer als eine fixe und
repetitive Zeiteinheit vorgegeben ist, dann ist es für den/die Lehrer/in schwerer individualisierte
Lernprozesse zu initiieren.
Hypothese 2: Wenn jeder/jede Schüler/in für sich persönlich fachliche Schwerpunktsetzungen in der
Schullaufbahn auswählen kann, dann werden die Schüler/innen in ihren Potenzialen nachhaltiger gefördert
und gefordert.
Hypothese 3: Wenn die didaktischen Entscheidungen des/der Lehrenden bewusst und differenziert
getroffen werden, dann können die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler/innen adäquater als
in (fach)didaktisch nicht reflektierten Unterrichtsverläufen berücksichtigt werden.
Hypothese 4: Wenn ein Lernraum für eine bestimmte unterrichtsmethodische Funktion gestaltet und
ausgestattet wird, dann kann diese Methode effizienter im Unterricht eingesetzt werden.
Hypothese 5: Wenn zwischen den Schulpartner/innen Strukturen für ein respektvolles Miteinander
ausgehandelt werden, dann werden die Schüler/innen in ihrer Persönlichkeit von den Lehrer/innen stärker
wahrgenommen.
Hypothese 6: Wenn die Schüler/innen ein differenziertes Lernverständnis haben, dann wird von ihnen
Lernen als persönliche Eigenaktivität verstanden.
3.2.3
Schritt 3: Erhebungsparameter der einzelnen Hypothesen definieren
Durch die detailliertere Analyse der einzelnen Hypothesen werden unklare begriffliche Konzepte, sowie
Termini, die mehrdeutig interpretiert werden könnten genauer erläutert und fachdidaktische Bezüge für das
Unterrichtsfach GW hergestellt. In diesem Kontext werden zusätzlich Erhebungsmethoden und
entsprechende Indikatoren angeführt.
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Hypothese 1: Wenn das zeitliche Ausmaß einer Unterrichtsstunde in der Schule immer als
eine fixe und repetitive Zeiteinheit vorgegeben ist, dann ist es für den/die Lehrer/in schwerer
individualisierte Lernprozesse zu initiieren.
Begriffliche Konzepte
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