Kippeln erwünscht
Die Berliner Designer „e27” verfremden bereits Existierendes zu neuen Gebrauchsobjekten. Stühle werden auf Kufen gestellt und knuffige Sitzsäcke mittels Vakuumtechnik dem Körper angepasst
von MICHAEL KASISKE (T01/SEP.41995 die tageszeitung, 01.09.2001, S. 28, Ressort: Spezial; Kippeln erwünscht)
Roericht legte den Designstudenten nahe, die Aufgabenstellungen zu hinterfragen, die Handlungsfelder aufzudecken, die Zielgruppe zu erkunden und andere Fachdisziplinen einzubeziehen. Was langwierig tönt, sind meist kurze Prozesse; so dauerte die Entwicklung der beiden Prothesentypen in Zusammenarbeit mit dem Probanden und den Orthopädie-Mechanikern des Oskar-Helene-Heims lediglich drei Wochen.
Die Produkte von e27, auch ihre Grafik- und Webdesigns, wenden sich an den selbstbewussten Verbraucher, der nicht seine Umwelt dekorieren will, sondern die Dinge als Teil seines Alltags benutzt. Auch die jüngste e27-Entwicklung, der „re-tire” und sein Anhängsel „re-babe” gehören in diese Kategorie.
„Warum das Kippeln verbieten, wenn das Schaukeln erlaubt ist?”, meint Fax Quintus und deutet auf den Schaukelstuhl, an den bei Bedarf eine Kinderwiege mit Lederbändern geknüpft werden kann. Der ursprüngliche Stuhl war ein Fundstück, der für „re-tire” auf Kufen gestellt wurde. Die eigentlich lapidare Form entwickelte sich im Verlauf einiger Gestaltstudien zu einem edel wirkenden Schaukelstuhl. Das Gestell kann wahlweise vernickelt, aus Edelstahl oder mit einer Pulverbeschichtung in Karminrot geliefert werden, die Sitzfläche besteht aus Binsengeflecht in Naturfarben oder Dunkelbraun; demnächst werden Extensionen wie eine Zeitungstasche und eine Stillablage erhältlich sein.
Da der Stuhl stapelbar ist, regt e27 den öffentlichen Einsatz an. Würde Politiker wie etwa Angela Merkel im Bundestag nicht mehr mit ihrem Stuhl hin und her rollen, sondern – je nach Nervenanspannung – langsamer oder heftiger schaukeln, die Debatten würden eine körperliche Belebung erfahren. (T01/SEP.41995 die tageszeitung, 01.09.2001, S. 28, Ressort: Spezial; Kippeln erwünscht)
Robert und Martin saßen sich schräg gegenüber am Esstisch in Roberts Wohnzimmer. Es war schwierig geworden, an den beiden vorbei ein Gespräch zu führen. Robert feierte seinen 34. Geburtstag. Auch Brinkmann saß mit am Tisch, seine Freundin Alexandra war mit Robert befreundet. Brinkmann wusste von ihr, dass Robert ein Musikfreak sei: „Ihr versteht euch bestimmt!”. Er freute sich tatsächlich, mal wieder jemand kennenzulernen, der möglicherweise ähnlich sozialisiert war. Ihm fiel auf, dass Robert und Martin im Verlauf des Abends sich immer mehr miteinander verhakten. Allerdings so, dass die anderen fünf Gäste – Brinkmann, Alexandra, Roberts Freundin Rollergirl und ein anderes Pärchen – bald zu Statisten wurden, die auf ihren Stühlen zu kippeln begannen.
Brinkmann fühlte sich unwohl, er hatte sich das anders vorgestellt. Die Musik, die lief, kam ihm für eine lockere Runde nicht angemessen vor. Er hätte sich etwas Leichteres gewünscht, ja, Easy Listening, Lounge-Musik, nicht diesen schwer zugänglichen Indietronics-Low-Fi-Kram, den Robert nicht müde wurde aufzulegen.
Martin und Robert sprachen über Brother Love und Caroline, über ein Prince-Coverversionen-Album eines Mitglieds von Yo La Tengo, über Seitenprojekte von Mercury Rev, die neue Sparklehorse und besagte Brian Jones Massacre. Brinkmann sagten diese Bands und deren Alben fast überhaupt nichts. Yo La Tengo, klar, die kannte er, auch das neue Mercury-Rev-Album „All Is Dream” war ihm ein Begriff. (T01/OKT.47508 die tageszeitung, 05.10.2001, S. 22, Ressort: Kultur; Plötzlich verpasst man die Verfeinerungen des Pop)
Er fängt sofort an zu lesen, und zwar von vorne: „Auf dem Weg nach Teheran sah ich aus dem Autofenster, mir wurde etwas übel, und ich hielt mich an Christopers Knie fest.” Wie bei „Faserland” sind Krachts Helden auf Reisen und machen sich Gedanken über Popmusik, Markenklamotten und Styling. Aber statt durch den deutschen Alltag nach der Wiedervereinigung bewegen sie sich durch einen feindseligen Iran im Revolutionsjahr 1979. Und sind von Anfang an krank, seelisch wie körperlich.
Kracht legt bei der Präsentation seines Erlebnisberichts dezidiert keinen Wert auf Performance, er verkörpert ganz das Schriftstellerklischee, gegen das er vor kurzem noch so gerne aninszeniert hat: Kracht ist in sich gekehrt, scheu, sensibel, die Stimme kippelt ihm öfter, ganz der Künstler, der sich nur in seiner Welt wohlfühlt und sich mit dem Kontakt nach draußen schwer tut. Alles, was er aus seiner Umgebung aufnimmt, ist der Rauch seiner Zigaretten. Und das sagt auch nur: Ich bin nervös. Und irgendwie ergriffen.
Diese Ergriffenheit wird nach der Pause zur Betroffenheit: Kracht liest nun das Ende seines Textes, eine eindringliche Schilderung des Lebens in einem chinesischen Arbeitslager. Darin darbt sein Held mit einer eigenartigen Lust an der Entbehrung, die ihm Mittel zur seelischen Reinigung ist. Die Grausamkeiten, die er dabei erleidet, breitet Kracht ähnlich detailliert aus wie Brett Easton Ellis die Morde in „American Psycho”. (T01/OKT.48523 die tageszeitung, 11.10.2001, S. 28, Ressort: Schlagseite; Hallo draußen)
wohin morgen
Frisches Gebläse
Der Worte werden in der Stadt eigentlich genug gewechselt. Müssen sich nur welche finden, die dem ganzen Gerede, dem Herumlyriken und Wortsurfen auch zuhören wollen. Weil aber jedes neue Spiel eine neue Chance ist, sollte man in diesen Zusammenhängen mal dem Fön sein eines Ohr schenken. Ein literarisches Jungsquartett. Recht frisch auf der Szene. Aber bereits mit etlichen Meriten samt renommierten Verlagsanbindungen in den Hosentaschen. Schöner noch ist, wie der Fön die Texte kippelnd knapp vor dem Absturz ins Absurde platziert. Zurückhaltend im Vortrag. Immer stilvoll. Das andere Ohr braucht man übrigens für den Einsatz einer ganzen Reihe an Instrumenten. Weil bei Fön Literatur und Musik sich endlich mal richtig mögen wollen.
Schoko-Laden, Ackerstraße 169, Freitag, 26. 10., 21 Uhr (T01/OKT.50946 die tageszeitung, 25.10.2001, S. 26, Ressort: tazplan; Frisches Gebläse)
Immerhin: Um die Olympischen Spiele ging es wohl zum letzten Mal
Eine Premiere war es, obwohl das Abgeordnetenhaus schon zum zweiten Mal in dieser Zusammensetzung zusammentrat. Bei der konstituierenden Sitzung durften sich die Grünen und die FDP noch als Regierungsfraktionen in spe fühlen, jetzt gehören sie zur Opposition und schauen auf den großen rot-roten Block. Ganz links darin sitzt einer, der nun doch bleiben wird: Gregor Gysi nimmt sein Mandat im Abgeordnetenhaus an und wird Senator. Gestern kam er erst verspätet ins Parlament, das er dem Vernehmen nach für mindestens eine Nummer zu klein für einen Politiker seines Kalibers hält. Geredet hat er nicht. Gegenüber von Gysi kippelt Günter Rexrodt, neuer Fraktionsvorsitzender der Liberalen. Ob er bleiben wird, als heimlicher Oppositionsführer neben dem gestern überfordert wirkenden Frank Steffel? Ungewiss ob der rot-roten Aussichten.
Neue Lage im Lande, neue Leute im Parlament, eine neuer Senat wird gerade gebildet – und was tut das neue Abgeordnetenhaus? Debattiert die alten Hüte! Allein die Grünen versuchten, die Zukunft in Gestalt der Haushaltssanierung bis 2009 auf die Tagesordnung zu setzten. Damit standen sie aber allein da. Und so ging alles seinen gewohnten Berliner Gang: Der CDU-Abgeordnete Roland Gewalt verortete das wichtigste Problem der Metropole präzise in der Kleinen Alexanderstraße: „Werfen Sie (die PDS) endlich die autonome Stadtguerilla aus ihrer Parteizentrale hinaus!” Innensenator Ehrhart Körting (SPD) beantwortete „aus alter Freundschaft” CDU-Anfragen zur Rettung der Reiterstaffel der Polizei. (T01/DEZ.59798 die tageszeitung, 14.12.2001, S. 21, Ressort: Berlin Aktuell; Knallerbsen und Ideologie)
Knapp 100 Ordner mit Zahlen und Aussagen zur Bankgesellschaft stehen dort in drei kahlen Büroräumen. Sie sollen die Basis bilden, wenn das Parlament über die Risikoabschirmung entscheidet, die Rettung der Bank vor dem Konkurs. Das passiert in 19 Tagen. Klarheit gibt es in den Fraktionen noch nicht, berichten Abgeordnete am Rande. In einem ist man sich jetzt schon einig: Dass es statt der vom Finanzsenator vorgegebenen 3,7 Milliarden Euro um die sechsfache Summe gehen wird – um über 20 Milliarden Euro, fast so viel wie der komplette Haushalt 2002.
Es ist der zweite Tag nach dem Haushaltsbeschluss des Senats. Die Gewerkschaften protestieren, in den Kitas droht ein Streik, und der Flughafenausbau kippelt nach einer Gerichtsentscheidung am Vortag noch mehr. SPD und PDS aber halten es für unverzichtbar, im Parlament in einer aktuellen Stunde über den Tourismus als Wirtschaftsfaktor zu sprechen. Ein erregendes Thema, hat Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) tags zuvor gewitzelt. CDU, FDP und Grüne schlagen Alternativen vor, wollen den Haushalt, Schulen oder den Flughafen thematisieren. „Legen Sie die Urlaubskataloge zur Seite und lassen Sie uns über die wirklich wichtigen Dinge in Berlin reden”, fordert CDU-Haushaltsexperte Nicolas Zimmer. Vergebens.
So bleibt Zeit für einen Abstecher in jene drei Büros des Abgeordnetenhauses, die Momper Datenraum nennt. 16 Exemplare der Bankunterlagen stehen in den drei Räumen, jeweils sechs Leitz-Ordner mit 1.500 Blättern. (T02/MAR.14499 die tageszeitung, 22.03.2002, S. 22, Ressort: Berlin Aktuell; Sparer in Urlaubslaune)
Eine Geschichte von den Straßenjungen in Casablanca, mit viel Poesie auf die Leinwand gebracht
Es war einmal ein Straßenjunge, der davon träumte, ein Prinz zu sein. Doch da dies kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht ist, sondern ein Film aus dem Casablanca von heute, stirbt dieser Ali schon nach den ersten fünf Minuten des Films. In einem Streit mit anderen Straßenjungen wird er von einem geworfenen Stein am Kopf getroffen, und für den Rest des Films versuchen seine Freunde Kouka, Omar und Boubker, ihn zumindest so zu begraben, wie es eines Prinzen würdig ist.
So kippelt der Film „Ali Zaoua” immer zwischen einer märchenhaften Poesie und einem ungeschönten dokumentarischen Blick auf das Leben von Straßenkindern in Marokko hin und her. Wenn ein Kind auf die Kreidezeichnung an einer Mauer blickt, dann kann die Figur sich plötzlich bewegen und als Zeichentricksequenz mit einem Boot übers Meer zu der Insel mit den zwei Sonnen fahren.
Davon hatte Ali immer seinen Freunden erzählt, und diese Traumwelt wird für Kouka, Omar und Boubker manchmal in den dreckigen Elendsvierteln von Casablanca real. Wohl auch, weil sie ständig Klebstoff schnüffeln; wohl auch, weil ihr reales Leben ohne Fluchtträume nicht zu ertragen wäre. Man braucht nur in ihre Gesichter zu schauen: der eine hat eine tiefe, gezackte Narbe auf der Wange, der andere eine gebrochene und schief zusammengewachsene Nase, der dritte einen so resignierten, weltweisen Blick wie ein alter Bettler. (T02/MAI.23573 die tageszeitung, 16.05.2002, S. 27, Ressort: Kultur; Straßenjungen-Kino)
Angewandte Komfortlehre
Der richtig bequeme Bürostuhl macht denkfaul, sagen die Erfinder eines neuen Arbeitshockers. Das Bewegungstier Mensch muss aus eigener Kraft sitzen und für einen wachen Geist ausreichend kippeln
von MARGRET STEFFEN
Es ist angenehm, entspannend, macht glücklich. Und es war schon immer sanktioniert: kippeln auf einem Stuhl. Schulordnungen verbieten, Lehrer mahnen, Eltern nerven: (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
Der richtig bequeme Bürostuhl macht denkfaul, sagen die Erfinder eines neuen Arbeitshockers. Das Bewegungstier Mensch muss aus eigener Kraft sitzen und für einen wachen Geist ausreichend kippeln
von MARGRET STEFFEN
Es ist angenehm, entspannend, macht glücklich. Und es war schon immer sanktioniert: kippeln auf einem Stuhl. Schulordnungen verbieten, Lehrer mahnen, Eltern nerven:
„Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?” (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
wohl bei Tische sitzen will?”
Der Zappelphilipp aus dem Kinderbuch von 1845 würde heute nicht mehr unter der Tischdecke landen – der Kippelstuhl ist erfunden worden. Er hat zwei leicht verkürzte Beine und steht um 90 Grad versetzt. Der Zappler kann so, ein Stuhlbein zwischen den Füßen, leicht vor- und zurückwippen. Studenten der Universität der Künste (UdK) in Berlin bauten das Sitzmöbel, auf dem sich der Kippeldrang problemlos ausleben lässt.
„Ich kipple leidenschaftlich und habe einfach auf meine Bedürfnisse beim Sitzen geachtet”, sagt Erfinderin Marion Kielhorn vom Fachbereich Gestaltung. Zuerst bastelte sie etwas aus Besenstielen und Brettern, „um zu sehen, ob es sich gut anfühlt”. Heraus kam der grazile Hocker mit Hinkebein und weichem Polster.
Weltweites Patent
„Es ist so einfach wie genial”, so Arbeitswissenschaftlerin Barbara Tietze. Die Professorin betreut das Projekt an der Lehrwerkstatt für Ergonomie oder „für angewandte Komfortwissenschaft”, wie Tietze sagt. „Die Studenten konnten das jetzt weltweit patentieren lassen. Es ist unglaublich, dass da noch nie jemand darauf gekommen ist.” (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
Denn dass das Hocken am Arbeitsplatz dynamisch sein soll, ist der Sitzgesellschaft inzwischen bekannt: Mit jeder Menge Hebelchen, Schrauben und Wippvorrichtungen suchen Stuhlhersteller das jahrelange Sitzen variabel und entlastend zu machen.
Das Problem ist, dass Menschen nicht zum Stillsitzen geschaffen sind und es auch nie sein werden. Zu „schädlichster Passivität” sei der arbeitende Mensch verurteilt, sagt Tietze, weil er im Büro vor allem bequem und schwerelos arbeitet. Er wippt zwar im High-Tech-Sessel, fühlt aber sein eigenes Gewicht nicht. Und der berühmte Sitzball demonstriere eher Fliehkräfte – indem er unter dem Hinterteil wegrutscht.
„Die Erfahrung von Balance und Körperspannung ist fundamental”, sagt die Professorin. „Wir arbeiten nur ganzheitlich, wenn wir unsere Schwerkraft wahrnehmen, uns mit kleiner Anstrengung immer wieder neu aufrecht halten.” Deshalb kippeln Kinder auch so gern – sie loten die Schwerkraft aus, bis sie dann durch DIN-genormte Schulstühlen zurück auf den Boden müssen. Das gewagte Balancieren ums Gleichgewicht sorge für „zentrale Aktiviertheit des Gehirns”, erklärt die Arbeitswissenschaftlerin. Von wegen also: „Sitz anständig!” – nichts ist unnatürlicher als das mühsam anerzogene, ordentliche Sitzen.
Doch auch im Büro ist es mit dem Kippeln vorbei, seit in den 80ern der genormte Bürostuhl mit fünf Rollen eingeführt wurde. Die Menschen suchen sich nun zu helfen, indem sie den Fuß etwa um die Stuhlsäule herumschlingen: Zug und Gegendruck können, so Tietze, die Spannung im Oberkörper etwas mildern.
Wer aber nicht kippeln darf, verliert laut Tietze seinen „kleinen Bewegungsalltag” – gemeint sind triviale Bewegungen ohne Nutzen, die für Wohlbefinden sorgen. (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
Und der berühmte Sitzball demonstriere eher Fliehkräfte – indem er unter dem Hinterteil wegrutscht.
„Die Erfahrung von Balance und Körperspannung ist fundamental”, sagt die Professorin. „Wir arbeiten nur ganzheitlich, wenn wir unsere Schwerkraft wahrnehmen, uns mit kleiner Anstrengung immer wieder neu aufrecht halten.” Deshalb kippeln Kinder auch so gern – sie loten die Schwerkraft aus, bis sie dann durch DIN-genormte Schulstühlen zurück auf den Boden müssen. Das gewagte Balancieren ums Gleichgewicht sorge für „zentrale Aktiviertheit des Gehirns”, erklärt die Arbeitswissenschaftlerin. Von wegen also: „Sitz anständig!” – nichts ist unnatürlicher als das mühsam anerzogene, ordentliche Sitzen.
Doch auch im Büro ist es mit dem Kippeln vorbei, seit in den 80ern der genormte Bürostuhl mit fünf Rollen eingeführt wurde. Die Menschen suchen sich nun zu helfen, indem sie den Fuß etwa um die Stuhlsäule herumschlingen: Zug und Gegendruck können, so Tietze, die Spannung im Oberkörper etwas mildern.
Wer aber nicht kippeln darf, verliert laut Tietze seinen „kleinen Bewegungsalltag” – gemeint sind triviale Bewegungen ohne Nutzen, die für Wohlbefinden sorgen. Heute sind sie wegrationalisiert – wie bei der Tippse, die nur noch die Finger über der Tastatur krümmt. Auch Wippvorrichtungen helfen wenig, mit ihnen schwankt man nur schwerelos um sich selbst, der Bezugspunkt zum Raum fehlt. „Diese Inaktivität und Begrenztheit verengt den Horizont”, sagt Tietze. (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
Deshalb kippeln Kinder auch so gern – sie loten die Schwerkraft aus, bis sie dann durch DIN-genormte Schulstühlen zurück auf den Boden müssen. Das gewagte Balancieren ums Gleichgewicht sorge für „zentrale Aktiviertheit des Gehirns”, erklärt die Arbeitswissenschaftlerin. Von wegen also: „Sitz anständig!” – nichts ist unnatürlicher als das mühsam anerzogene, ordentliche Sitzen.
Doch auch im Büro ist es mit dem Kippeln vorbei, seit in den 80ern der genormte Bürostuhl mit fünf Rollen eingeführt wurde. Die Menschen suchen sich nun zu helfen, indem sie den Fuß etwa um die Stuhlsäule herumschlingen: Zug und Gegendruck können, so Tietze, die Spannung im Oberkörper etwas mildern.
Wer aber nicht kippeln darf, verliert laut Tietze seinen „kleinen Bewegungsalltag” – gemeint sind triviale Bewegungen ohne Nutzen, die für Wohlbefinden sorgen. Heute sind sie wegrationalisiert – wie bei der Tippse, die nur noch die Finger über der Tastatur krümmt. Auch Wippvorrichtungen helfen wenig, mit ihnen schwankt man nur schwerelos um sich selbst, der Bezugspunkt zum Raum fehlt. „Diese Inaktivität und Begrenztheit verengt den Horizont”, sagt Tietze.
Absolventin Marion Kielhorn hat die Stuhlidee nun weiterentwickelt: verschiedene Größen für Erwachsene, kleine Hocker für Kinder – in Känguruh- und Hühnerform. In ihrer frisch abgeschlossenen Diplomarbeit „Schulgalopp” prüft sie, wie der Kippelstuhl zum allgemeinen Schulmöbel werden könnte. Dazu muss er etwa stapelbar sein, bruchsicher und für jedes Kind in der richtigen Größe. (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
Heute sind sie wegrationalisiert – wie bei der Tippse, die nur noch die Finger über der Tastatur krümmt. Auch Wippvorrichtungen helfen wenig, mit ihnen schwankt man nur schwerelos um sich selbst, der Bezugspunkt zum Raum fehlt. „Diese Inaktivität und Begrenztheit verengt den Horizont”, sagt Tietze.
Absolventin Marion Kielhorn hat die Stuhlidee nun weiterentwickelt: verschiedene Größen für Erwachsene, kleine Hocker für Kinder – in Känguruh- und Hühnerform. In ihrer frisch abgeschlossenen Diplomarbeit „Schulgalopp” prüft sie, wie der Kippelstuhl zum allgemeinen Schulmöbel werden könnte. Dazu muss er etwa stapelbar sein, bruchsicher und für jedes Kind in der richtigen Größe. „Es ist ein Irrglaube, dass Konzentration still sitzen bedeutet”, sagt sie. „Die Kinder werden ja auch nicht ständig kippeln wie ein Uhrwerk” – nach einer Eingewöhnung kann der Stuhl dann den Bewegungsdrang auffangen, Bauchlandungen ausgeschlossen. „Die Lehrer sind unglaublich interessiert”, berichtet Barbara Tietze. 16 Anmeldungen für ganze Klassensätze des Hockers würden vorliegen, in einigen Schulen werde schon getestet. Das UdK-Projekt soll jetzt in Großproduktion gehen.
Begeisterte Zöllner
„Wir haben schon einige Begleituntersuchungen”, sagt Tietze. „Die Leute gewöhnen sich schnell an die kleinen Hocker, schleppen sie überall hin mit, obwohl das gar nicht so bequem ist.” Die Testexemplare dafür stammen aus einer Holzwerkstatt in Polen. Die Teile wurden dort computergesteuert ausgefräst und dann verarbeitet – die Beine in Birkenholz, die Sitzkissen aus atmungsaktivem Latex. (T02/JUN.26309 die tageszeitung, 01.06.2002, S. 31, Ressort: Spezial; Angewandte Komfortlehre)
„Wir wollen uns da ein paar Optionen offen halten und können mit Dreier- oder Viererkette spielen, aber auch nur mit zwei Manndeckern”, sagt Skibbe. Und auch, dass das allein Rudi Völler entscheide und er, Skibbe, natürlich. „Die Taktik wird ausschließlich im Trainerstab besprochen”, betont der Bundestrainer nochmals ausdrücklich.
Das muss wohl eigens erwähnt werden, weil bei manchem Pressevertreter durchaus Zweifel an diesem Tatbestand aufgekommen sind, ausgelöst durch einen Disput, den Torhüter Oliver Kahn angezettelt hatte, als er nach dem Platzverweis von Carsten Ramelow und noch vor der Pause im Spiel gegen Kamerun wild gestikulierend Richtung Trainerbank gestürmt war. Kahn, unbestritten Kopf und Sprecher der Mannschaft, hatte eine sofortige Neuordnung der zuvor so kippelnden Defensive bei Völler angefordert – und sie nach der Pause auch prompt bekommen. Da spielte die deutsche Mannschaft erstmals in diesem Turnier mit Viererkette – und weit besser als zuvor. Ist also Kahn der heimliche Trainer der Mannschaft oder doch zumindest jener, der sie aufstellt und die taktischen Vorgaben gibt, wenn es drauf ankommt? Diese Frage sprach gestern um die Mittagszeit zwar keiner der Pressemenschen aus, letztendlich aber schwebte sie doch ständig über der alten Ruhmeshalle. Und natürlich musste Michael Skibbe da vehement widersprechen, schon weil im anderen Fall auch er mehr oder weniger als Frühstückstrainer enttarnt worden wäre. Zwar nehme man, sprach also Skibbe, auch im Trainerstab die Dinge gern auf, die in der Mannschaft besprochen würden, und prüfe sie wohlwollend, letztendlich aber seien „Ollis Aussagen zunächst einmal unwesentlich”. Wäre ja auch noch schöner, wenn jetzt schon der Olli da hinten in seinem Kasten das Sagen hätte … (T02/JUN.28640 die tageszeitung, 14.06.2002, S. 19, Ressort: Leibesübungen; Kunstvoll geheimniskrämern)
Ostsee kippelt
Algen sorgen für sinkenden Sauerstoffgehalt. Die ersten Fische wandern ab. Verursacher Landwirtschaft
Der geringe Sauerstoffgehalt der Ostsee macht der Tierwelt zu schaffen. „Die ersten Fische sind definitiv abgewandert”, sagte der schleswig-holsteinische Umweltminister Klaus Müller (Grüne) gestern in Kiel. Am Meeresgrund seien bereits erste tote Tiere, die nicht hätten flüchten können, gefunden worden. (T02/SEP.42940 die tageszeitung, 05.09.2002, S. 22, Ressort: Hamburg Aktuell; Ostsee kippelt)
Berlin Babylon
Turnschuhe zu Machthabern. Aber etwas Hoffnung bleibt. Denn „Gott liebt Punks”
Deutschland kippelt also gerade am Abgrund? Pah! Wenns mal eine wirklich beunruhigende Schreckensvision sein soll, beamt man sich ins ferne Jahr 2032, in dem sich Turnschuhe in allen Ländern der Erde in Menschen mit ungeheuren Kräften verwandeln und tatsächlich die Jugend an die Macht gebracht wird, so wie sich das Farhad Payar in seinem Stück nach Lektüre von Dürrenmatts „Ein Engel kommt nach Babylon” ausgedacht hat. Und was bei dem noch ein Bettler war, ist nun der letzte Punk von Berlin, der gerettet werden muss. „Gott liebt Punks” heißt es also, aber natürlich läuft auch hier wenig nach göttlichem Plan, und das Grundthema, das Dürrenmatt umtrieb (wie kam es zum Turmbau in Babel?), spiegelt sich in der multinationalen Besetzungsliste der Schauspielercrew. (T02/NOV.56925 die tageszeitung, 22.11.2002, S. 26, Ressort: tazplan; Berlin Babylon)
Als der nämlich neulich bei „Rahaus Wohnen 2001” in meiner Nähe stand und – genau wie ich – fassungslos die vielen herzförmigen Kissen und hässlichen Glitzerlampen bestaunte, wirkte er wie ein unaufgeregter und nett unrasierter Mann. Nicht wie ein eitler Geck. Aber wer weiß, vielleicht wedelt er auch sofort mit den Armen, gibt Luftküsschen und lächelt rund um sich zu, wenn andere vom Fach dabei sind.
Das mit den Luftküsschen habe ich übrigens den paar Menschen, die das je mit mir veranstalten wollten, ganz leicht ausgetrieben, seit ich stets ernst „Nur mit Zunge!” brülle, wenn sie mit zum „Moi!”-gespitzen Lippen in meine Richtung kippeln.Nur am letzten Wochenende schaffte es einer in der schnuckeligen, frisch eröffneten Lee-Harvey-Oswald-Bar in Friedrichshain, meine Wange zu treffen, bevor ich ihm meinen feuchten Lappen als Schreck und Warnung in den Hals schieben konnte. Was daran lag, dass diese jungen Leute (die, wie ich hörte, teilweise auch nicht wissen, wer Lee Harvey Oswald war, aber die Videoinstallationen schick finden, ein Wunder, man sollte doch meinen, Anti-US-Präsidentismus ist heuer wieder total in) einfach reaktionsschneller sind als eine olle Schachtel wie ich. Dafür hab ich mehr Erfahrung, ich alter Harung.
JENNI ZYLKA
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