Gesunden menschenverstandes


EINLEITUNG: DAS PROBLEM DES "GESUNDEN MENSCHENVERSTANDES"



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Sana27.03.2017
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1. EINLEITUNG:
DAS PROBLEM DES "GESUNDEN MENSCHENVERSTANDES"


Das geltende Verkehrsrecht begreift Verkehrsregelung als Regelung menschlichen Versagens. So heißt es etwa in der Begründung der Straßenverkehrsordnung vom 16. November 1970: "Verkehrsunfälle werden überwiegend durch menschliches Versagen verursacht. Dieses Versagen besteht im wesentlichen in vermeidbaren Verstößen gegen wenige Grundregeln des Verkehrs."1 Mit diesem Ansatz folgt der Verordnungsgeber dem Postulat der Versicherungsjuristen MEYER und JACOBI in ihrer Arbeit über "Typische Unfallursachen im Straßenverkehr", demgemäß Verkehrsunfälle im wesentlichen durch fahrlässige und vorsätzliche Verstöße gegen die einfachsten Verkehrsregeln verursacht werden,2 und "keinen Beitrag zur Unfallbekämpfung leisten ... (kann), …, wer die Unfallursachen nach der Devise: 'Tout comprendre c'est tout pardonner' betrachtet.3

Ein solcher Ansatz entspricht dem herkömmlichen Denken zur Verhaltensregelung, dem "gesunden Menschenverstand".4 Zugrunde liegt die Vorstellung, hinreichende Legitimation zur Verhaltensregelung sei die Tatsache, dass man erstens am sozialen Leben (und als Verkehrsteilnehmer: am Straßenverkehr) teilnehme und zweitens einen Kopf besitze.

Ob und wieweit der Anspruch berechtigt ist, dass Verhaltensregelung vorwiegend die Regelung menschlichen Versagens ist, soll Gegenstand der Arbeit sein. Am Beispiel der Verkehrsregelung werden wir zeigen, dass der "gesunde Menschenverstand" keine hinreichende Grundlage für die institutionelle Regelung menschlichen Verhaltens ist, sondern 1. dass jede Rege-jung eine über das "Offensichtliche" hinausgehende Analyse der Dynamik des zu regelnden Lebenszusammenhangs voraussetzt und weiterhin 2. dass jeder institutionellen Regelung Grenzen gesetzt sind.5

Dazu werden in dieser Arbeit zwei Thesen aufgestellt und entwickelt, die sich von der herkömmlichen Betrachtungsweise des Verkehrs und der Verkehrsregelung unterscheiden: Einmal die These vom Automobilverkehr als System von Person-Objekt Interaktionen, zum anderen die These von der Begrenzung institutioneller Regelung durch das Phänomen der Marginalität, d. h. dem Phänomen der Ubiquität, Rarität und Relativität von "Rand"- Positionen in sozialen Gruppierungen.

Der Grundgedanke der ersten These, die Notwendigkeit der Analyse des zu regelnden sozialen Lebenssachverhalts über das Offensichtliche hinaus, gilt entsprechend für andere Sachzusammenhänge, wo, wie beim Straßenverkehr, institutionelle Regelungen bisher eingestandenermaßen erfolglos waren gemessen an dem gesetzten Ziel. Beispiele dafür sind etwa Wohlstands-, Begehrungs- und Wirtschaftskriminalität, d. h. Fälle der Jedermannskriminalität 6 ("white-collar"-Kriminalität), die im Ansatz immer noch weitgehend vom Erfolg: Vermögensbeschädigung, nicht aber von ihrer sozialen Dynamik her verstanden werden.7

Die zweite These, das Paradigma der Marginalität, hat demgegenüber direkte Bedeutung für jede institutionelle Regelung menschlichen Verhaltens. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass soziale Gruppierungen durch marginale Systempositionen charakterisierbar sind, diese jedoch nur in begrenztem Maße zur Verfügung stehen und deshalb die Effektivität institutioneller Normen eine kurvilineare Funktion der Häufigkeit der Sanktionen ist. Vereinfacht kann diese Funktion folgendermaßen dargestellt werden:



Diese zwei Thesen sollen im folgenden anhand einer Analyse des Automobilverkehrs und seiner Regelung untersucht und dargestellt werden. Der Automobilverkehr und seine Regelung eignet sich dazu in besonderem Maße, denn einerseits greifen "Normen auf keinem anderem Gebiet in das Leben selbst so unmittelbar ein ... wie Verkehrsvorschriften",8 andererseits erscheint angesichts der Technizität der Verkehrsregelung auf diesem Gebiet eine Erörterung der institutionellen Regelung menschlichen Verhaltens unverschleiert von Emotionalität am ehesten möglich.9 Das Straßenverkehrsrecht und die von ihm beabsichtigte Regelung menschlichen Verhaltens durch Sanktionen ist deshalb ein Prüfstein für eine soziologisch-kriminologische Zergliederung des Sinns, Zwecks und der Grenzen der Wirkungskraft von institutionellen Normen und Sanktionen zur Beeinflussung von Verhalten.10

Die bestehende Verkehrsregelung, die sich vor allem als Regelung menschlichen Versagens versteht, wurde bisher vor allem unter dem Gesichtspunkt angegriffen, ein solcher Ansatz begründe ein unifaktorelles Postulat der Ursächlichkeit der unerwünschten Erfolge, nämlich der Straßenverkehrsunfälle.11 Eine kriminalsoziologische Betrachtungsweise der Verkehrsregelung lässt jedoch eine grundlegendere Kritik an dem Ansatzpunkt der bei der Straßenverkehrsordnung explizit genannten, in anderen Gesetzen implizit enthaltenen Überlegungen zur Regelung des menschlichen Versagens zu. Ausgehend von dem Postulat einer sozialen Konstruktion der sozialen Wirklichkeit 12 ist die Grundüberlegung dieser Arbeit, dass der "gesunde Menschenverstand" 13 zwar ein Leben in der sozialen Wirklichkeit ermöglicht, aber eben durch diese Tatsache die Analyse der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit erschwert. Auf der Grundlage dieser phänomenologischen - und damit letztlich auf den philosophischen Idealismus zurückführbaren - Position wird in dieser Arbeit deshalb der Versuch gemacht, eine Wirklichkeitskonstruktion zweiten Grades, d. h. eine Konstruktion von Konstruktionen der sozialen Wirklichkeit durch die Handelnden auf der sozialen Szene 14 zu schaffen. Bei dieser Aufgabe soll uns die Soziologie - von den Juristen manchmal abgelehnt als Wissenschaft der Übergriffe, die überall hineinredet, allgemein oft belastet mit dem Vorwurf, sie habe eine Art von Esoterik entwickelt, die niemandem sonst etwas anzugehen scheine, ein Werkeln mit Kategorien und Problemen eigener Art 15 - helfen, die vertraute Alltagswelt des "gesunden Menschenverstands" als problematisch anzusehen, sie als fremde neu zu entdecken und herauszufinden, "was jedermann weiß" - oder doch zu wissen glaubt. 16 Als Alltagswelt, die es zu entdecken gilt, soll jedoch in dieser Arbeit nicht nur die "allgemeine" alltägliche Welt, der "Alltag", verstanden werden, sondern auch die Alltagswelt der Rechtswissenschaften 17 und damit auch des Strafrechts. Angesprochen ist damit besonders die Alltagswelt, die herkömmlicherweise unter dem Begriff "Kriminologie" zusammengefasst wird. 18

Kriminologie wurde und wird heute oft noch als Wissenschaft vom Bemerkenswerten oder sogar Skurrilen verstanden. Der "Verbrecher" war der Sonderbare, der Außenseiter der Gesellschaft. Vom Strafrechtssystem als Verbrecher definiert, war das Augenmerk der Kriminologie auf ihn und seine Tat gerichtet. Erst vor relativ kurzer Zeit warf der in Deutschland unter Umbenennung der Kriminologie in "Kriminalsoziologie" 19 vor allem von Fritz SACK eingeführte "labeling approach" 20 einen Schatten des Zweifels auf eine solche Selbstbeschränkung der Kriminologie. Aber auch die vom "labeling approach" geforderte Einbeziehung des Definitionsprozesses durch das Strafrechtssystem in das Untersuchungsgebiet der Kriminologie ändert noch nichts an der Ausrichtung kriminologischer Forschung auf das "Bemerkenswerte". 21

So ist es denn das Anliegen dieser Arbeit, durch eine kritische Haltung gegenüber der Ausrichtung der Kriminologie auf das Bemerkenswerte die Bedeutung des Alltäglichen hervorzuheben 22 und damit auch auf einen möglichen Beitrag der Kriminologie und des Strafrechts im Rahmen der Gesellschaftswissenschaften hinzuweisen. Versteht man nämlich Wissenschaft als einen Sonderfall der allgemeinen Problemlage, die mit der Formel "Erfassung und Reduktion von Komplexität" 23 begriffen werden kann, so ergibt sich geradezu als logische Folge, dass abweichendes Verhalten besonders durch die Untersuchung von konformen Verhalten, also des Alltäglichen, verstanden werden kann; denn "ein Verhalten ist abweichendes Verhalten, wenn es von den in einer Interaktionsbeziehung erwarteten Formen abweicht. Umgekehrt stimmt nicht- abweichendes oder konformes Verhalten mit den Handlungsnormen, die das soziale System seinen Rollenträgern auferlegt, überein." 24 In diesem Sinne umfasst eine Arbeit über abweichendes Verhalten zumindest implizit auch eine Analyse des konformen Verhaltens.

Für unsere Untersuchung bedeuten diese Überlegungen sowie die vorangegangenen zur Fraglichkeit des "Selbstverständlichen" im Alltag, dass wir, um eine Aussage über das menschliche Versagen im Straßenverkehr und, auf ihrer Grundlage, über die Regelung dieses Versagens machen zu können, von der Untersuchung desjenigen Verhaltens im Straßenverkehr auszugehen haben, das nicht als Versagen bezeichnet werden kann, also von der Untersuchung des "normalen" Verkehrsverhaltens. 25 Dabei müssen wir als besondere Gefahr für die beabsichtigten Konstruktionen zweiten Grades im Auge behalten, dass gerade beim "Alltäglichen" fest gefügte Konstruktionen der sozialen Wirklichkeit durch den "gesunden Menschenverstand",


d.h. Konstruktionen ersten Grades, bestehen, dass wir aber diese nicht übernehmen dürfen, sondern ihren Konstruktionsprozess zu untersuchen haben.

Nach einer Würdigung des Untersuchungsgegenstandes, des Verkehrsverhaltens und der Verkehrsregelung, werden wir deshalb im ersten Hauptteil der Arbeit die Inkonsistenzen des gegenwärtigen Verständnisses vom Verkehrsverhalten als System von Person-Objekt Interaktionen darzustellen suchen. In dem zweiten Hauptteil wenden wir uns dann dem Problem der Kontrolle menschlichen Verhaltens zu. Dort werden wir am Beispiel der Verkehrsregelung zu zeigen versuchen, ob, wie und wieweit menschliches Verhalten institutionell geregelt werden kann. Dieser Teil der Arbeit umfasst die Darstellung unserer zweiten These, der These von der Marginalität, auf die indirekt in neuester Zeit besonders POPITZ 26 hingewiesen hat.

Zunächst aber soll der Gegenstand der Untersuchung gewürdigt werden: Verkehr, Verkehrsverhalten und Verkehrsregelung.


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