(32) Würdenträger. Allgemein geläufig im politischen Kontext ist der Begriff des „Würdenträgers“. Er mutet prima vista unproblematisch an. Er geht daher vielen so leicht von der Zunge. Darin verbinden sich jedoch auf äußerst konfliktreiche Weise das Moment der Exzellenz mit dem Moment der Repräsentation eines Amtes zur Führungs- und Herrschaftsrolle innerhalb von einflussreichen Institutionen. Würde ist abgekoppelt von Macht. Als Würdenträger verkörpert man zwar die Macht einer Institution. Aber die persönliche Würde ist mit der Führung dieses Amtes nur zufällig verbunden, keinesfalls aber dadurch konstituiert. Denn die Inhaber solcher Führungsämter können „würdige“, d.h. fähige und den Anforderungen des Amtes gewachsene Nachfolger finden. Sie können sich in ihrer Amtsführung aber gleichermaßen, z.B. durch Amtsmissbrauch, als ihrer Aufgabe „unwürdig“ erweisen. Und sie können „würdelos“ auftreten, ohne dass damit automatisch zugleich die Würde des Amtes selbst aufgehoben würde.
(33) Wessen Würde tragen Würdenträger? Der Würdenträger trägt die „Würde“ einer Institution, welche diese selbst nur geborgt hat: von außen bzw. von oben, sofern sie durch göttlichen Willen legitimiert ist33; von innen bzw. von unten, sofern sie durch den Willen ihrer Mitglieder sowie die Rechtsförmigkeit ihrer Verfahren legitimiert ist. Fehlen beide, ist die Macht der Institution auf bloße Gewalt gebaut und damit illegitim. Staatliche Würdenträger sind mithin Träger der Würde der von ihnen Regierten – oder sie sind keine! Die Verkörperung der so legitimierten Würde einer Institution kann der Würdenträger durch persönliche Würde verstärken bzw. durch Würdelosigkeit schwächen oder gänzlich zerstören durch Staatsverbrechen.
(34) Historische Zäsur. Jedenfalls zieht sich durch den Begriff des Würdenträgers eine historische Zäsur: Vormodern ist eine nicht auf allgemeine Wahl und Anerkennung, sondern auf Gewalt sowie auf Legitimation durch dynastische Geburt oder durch göttliche Berufung gestützte Herrschafts-Würde antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher oder absolutistischer Kaiser, Könige und Fürsten. Sie konnte hineinreichen bis in metaphysische Dimensionen von Gottesgnadentum oder gar Gottähnlichkeit der Kaiserwürde. Sie manifestierte sich in einer ungemein elaborierten politischen Formenlehre der in Kleidung, Gesten und Zeremonien rituell sichtbar inszenierten Zeichen und Insignien dieser Macht und Würde34 – grandios entzaubert in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern! Etwas von diesen vormodernen Legitimationsgrundlagen steckt auch heute noch immer in der Amtswürde religiöser Führer wie der katholischen Päpste, muslimischer Ayatollahs oder des buddhistischen Dalai Lama.
Auch noch moderne Würdenträger können in den Voraussetzungen ihrer Amtsführung von der Aura dieser vormodernen Herrschaftslegitimation zehren. Auch in ihrem persönlichen Habitus können sie noch Anklänge an eine entsprechende Ausstrahlung und Autorität entfalten. Z.B. dort, wo es ihnen gelingt, Züge von Max Webers „charismatischer Herrschaft“ mit der Nachhaltigkeit von „good governance“ zu verbinden. Ein legitimer Würdenträger zu sein, verantwortlich Würde zu tragen, fordert sogar, die in diesem Begriff implizierte Erwartung an Exzellenz nicht von sich zu weisen, sondern anzunehmen und in praktisches Führungshandeln umzusetzen. Ausschlaggebend bleibt hier für die Verleihung von Amtswürde gleichwohl stets die Legitimation durch allgemeine und freie Wahl im institutionellen Rahmen eines rechtsstaatlichen und demokratischen politischen Systems.
(35) Selbstanerkennung und Selbstbindung. Der ausschlaggebende Rechtfertigungsgrund für die Forderung nach unbedingtem Respekt vor der Würde aller Menschen liegt weder in deren naturgegebener, angeborener Unverletzlichkeit noch in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Vor allem diese beiden vermeintlichen Rechtfertigungsgründe, die naturrechtliche und die religiöse, bestimmen bisher weitgehend die Diskussion um die Legitimation von universellen Menschenrechts- und Menschenwürde-Ansprüchen. Aber sie halten einer gründlichen logischen, rechtlichen und moralphilosophischen Prüfung nicht stand. Der ausschlaggebende Rechtfertigungsgrund liegt vielmehr in einer Selbstanerkennung und Selbstbindung der Menschen selbst. Das heißt: in der gegenseitigen Anerkennung aller Menschen als Mitglieder der menschlichen Gattung sowie in der Selbstbindung an die sich daraus ergebenden Normen des zwischenmenschlichen Verkehrs. Sind diese beiden Bedingungen sowie die entsprechenden rechtlich-institutionellen Vorkehrungen nicht gegeben, kann auch kein Verweis auf vermeintlich angeborene oder von Gott verliehene Unantastbarkeit die tatsächliche praktische Respektierung der Würde aller Menschen garantieren.
(36) Unvollkommenheit und Endlichkeit. Zur Würde des Menschen gehört neben den berechtigten Ansprüchen, die einem nicht bestritten werden dürfen, auch die Erfahrung des Unvollkommenen, der Endlichkeit, der „Kosten“, Verluste und Verzichte, welche man dafür in Kauf nehmen muss. Sie auszuhalten und den Umgang mit ihr gleichwohl konstruktiv und schöpferisch zu gestalten, erfordert und konstituiert eine Haltung der Würde. Sie wird daher vielfach nicht erlangt durch eine problem-, reibungs- und konfliktarme Biographie, sondern erst durch – sei es heroisch-aktive oder stoisch-erduldende – Verarbeitung dessen, was der Publizist Roger Willemsen als einen biographischen „Knacks“ beschreibt35: durch Prüfungen, welche das Leben stellt und die auch und gerade im Falle des Bestehens dauerhafte Spuren hinterlassen, welche die Würde bestärken oder beschädigen können.
(37) Der Kulturstaat als Förderer von Win-Win-Situationen. Würde ist somit ein Gegenbild zu Göttlichkeit und entrückter Vollkommenheit. Wenn man so will: der Weg Jesu! Er verkörpert einen „Sieg über das Siegen, über das Gesetz dieser Welt, das da lautet: for winners only.“36 Der Sport, der nach einem verbreiteten Missverständnis als idealtypische Verkörperung des Sieg-Prinzips gilt und in dem folglich Niederlagen als Nullsummenspiel in der Verteilung von Sieg und Niederlage erscheinen, „genießt“ deshalb weithin eine entsprechende kulturkritische Geringschätzung. Tatsächlich aber erweist er sich bei genauerem Hinsehen als ein sprechendes Symbol des genauen Gegenteils: als ein kulturelles Feld zur Schöpfung von Win-Win-Situationen, bei denen im Fall eines gelingenden Spiels alle Beteiligten als Bereicherte vom Platz gehen wie nach einem dramatischen Stück von der Theaterbühne.
Aber der Sport ist nur ein Beispielfeld von vielen. Eine aufgeklärte und zivilisierte, kulturstaatlich verfasste Gesellschaft lebt davon, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern eine große Vielfalt solcher Handlungsfelder eröffnet, innerhalb derer sie ihre Würde entfalten und verteidigen können. Die Bürgerinnen und Bürger vertun und verspielen allerdings die Möglichkeiten, die technischer Fortschritt und Wohlstand ihnen durch Entlastung von zahllosen Mühseligkeiten des Alltags früherer Tage eröffnen, wenn sie sich in einer Schlaraffenland-Mentalität einrichten und annehmen, alles regele sich von nun ab von selbst: das Grundrecht auf Würde gehe auf in dem Grundrecht, „keine Sorgen und keinen Ärger mehr“ haben zu müssen.
(38) Freiheit und Sicherheit. Würde hat also maßgeblich zu tun mit der Verfasstheit einer Gesellschaft. Ihre Gewährleistung ist nicht zuletzt angewiesen auf eine gelingende Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Sie braucht die Freiheit, erhobenen Hauptes und mutig schöpferische Risiken einzugehen. Zugleich aber muss sie sich auf (Ver-)Sicherungen stützen können, um dann, wenn das Risiko zuschlägt, die destruktiven Folgen beherrschbar zu halten. Die Freiheits-Seite der Würde braucht den Entfaltungsraum des demokratischen Rechtsstaates; denn Diktaturen sind neben anderen Übeln auch eine „Schule des Opportunismus“37. Die Sicherheits-Seite der Würde braucht den Schutzraum des sozialen Rechtsstaates. Wird diese Balance zu je einer Seite hin aufgehoben – sei es zur Seite eines liberalistischen oder eines sozialistischen Fundamentalismus – gehört die Würde des individuellen Menschen zu den ersten Opfern. Dagegen kann man sich nur dann nachhaltig wappnen, wenn die Gesellschaft wie ihre Mitglieder so verfasst sind, dass sie die Würde aller von außen garantieren durch Recht und von innen verteidigen durch Selbstachtung. Diese Voraussetzungen eröffnen allen die Möglichkeit, ein menschen-würdiges Leben zu führen. Sind sie gegeben, liegt es letztlich an jedem einzelnen Menschen selbst, sich des Geschenks dieser Möglichkeiten würdig zu erweisen.
(39) Rechtsanspruch auf Würde trotz verspielter persönlicher Würde. Vor allem aber gilt – und dies ist nicht nur theoretisch interessant, sondern von größter praktischer Bedeutung: Die in Abschn. 5 aufgeführten Verwandten und Gegenbegriffe zur Würde bilden gar kein echtes, d.h. symmetrisches Gegensatzpaar. Jene außerordentliche Vielfalt von Gegenbegriffen wurde zusammengefasst unter dem Sammelnamen „Verächtlichkeit“. Sie meint die unterschiedlichsten Formen eines Verspielens oder anderer Arten von Beeinträchtigung der persönlichen Würde. Aber selbst in solchen Fällen darf denen, welche in eine solche Lage geraten sind, der Rechtsanspruch auf Respekt vor ihrer Würde nicht abgesprochen oder gar entzogen werden. Dies ist ein Prinzip der Menschlichkeit, welches von vielen Menschen und Staaten noch immer als nur schwer vereinbar mit atavistischen Resten in ihrem Rechtsverständnis empfunden wird. Der verbreitete Vorbehalt gegen die unbedingte Geltung dieses Prinzips drückt sich aus in der Empörung gegen „zu milde“ Gerichtsurteile, welche den Opfern und ihren Vergeltungsbedürfnissen keine hinreichende Genugtuung verschaffen, sowie in unterschiedlichsten Formen von Selbstjustiz, Lynchjustiz, Folter und Todesstrafe. Staaten, in denen die Verhängung der Todesstrafe noch immer nicht verfassungsmäßig ausgeschlossen ist, verkennen die Verheerungen, welche es im prinzipiellen Respekt vor der Würde jedes einzelnen Menschen innerhalb ihrer Gesellschaften und der menschlichen Welt insgesamt anrichtet, dass wehrlose (wenn auch nicht schuldlose) Menschen von Staats wegen buchstäblich „kaltblütig“ getötet werden dürfen.
8. Würde als Ausdruck von De-Mut
(40) Eine Vision vollendeter Menschlichkeit statt der Utopie eines Neuen Menschen. Würde ist Ausdruck einer Vision von vollendeter Menschlichkeit. Sie umfasst den Reichtum aller Momente, wie sie hier beschrieben und positiv gewürdigt worden sind. Vollendete Menschlichkeit aber heißt zugleich auch: Sie ist Inbegriff einer Anerkennung vollständiger Diesseitigkeit und Unvollkommenheit. Sie ist nicht Ausdruck jener Utopien vom „Neuen Menschen“, wie sie durch die gesamte Literatur und Vorstellungswelt utopischer Verheißungen und Heilslehren geistern, einschließlich der christlichen Botschaft, wie sie etwa in der Antwort Jesu an einen Pharisäer namens Nikodemus anklingt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ (Joh. 3,1-3)38 Nein. Würde trägt nur der alte Adam in seiner Janusköpfigkeit, du und ich, wir alle. Mehr liegt nicht in unserer Macht. Mehr sollten wir uns daher vernünftigerweise nicht einreden lassen. Wer, unzufrieden mit den Unvollkommenheiten unserer Existenz, grundlegend darüber hinaus will, beschwört damit das Schicksal jeglicher Hybris heraus: Er führt den Kosmos der menschlichen Welt nicht vorwärts in ein Gelobtes Land, sondern wirft ihn erst recht zurück ins Chaos.
(41) Vestigia terrunt. Die Spuren am Wege entsprechender historischer Versuche schrecken. Die Imperfektion der menschlichen Welt lässt sich grundstürzend nur mit Gewalt überwinden. Also gar nicht. Denn auf Gewalt lässt sich keine nachhaltige Zukunft gründen. Würde, so verstanden, ist ein Vorschuss, den jeder von uns jedem von uns einräumt. Ein zinsloses verlorenes Darlehen, das also grundsätzlich nicht rückforderbar ist, das aber gerade dadurch einen generellen Vertrauensvorschuss signalisiert, auf den unser Zusammenleben angewiesen ist, um menschenwürdig sein zu können. Und dieses zunächst zinslos vergebene verlorene Darlehen erweist in der Praxis seine segensreiche produktive Wirkung. Es geht darum, allen Menschen ohne Ansehen von deren individuellen oder kollektiven Eigenschaften Würde zuzuerkennen, mit allen allgemeinen Attributen des Menschlichen. Es geht nicht darum, sie zu grundstürzend anderen Menschen zu machen. Denn eine wirkliche Lösung der Probleme der Menschen kann – trotz aller anderslautend in seiner Geistesgeschichte tradierten Hoffnungen, Sehnsüchte und Versprechungen – nicht davon erwartet werden, dass er in eine andere Hülle, eben in die eines grundstürzend neuen Menschen schlüpft.
(42) Der neue Mensch wäre kein Mensch. „Die Suche des Menschen nach einem Anders- und Neusein seiner selbst, nach Neu- und Wiedergeburt ist freilich uralt und hat die Kulturgeschichte des Menschen immer begleitet“ – aber: „Die säkularreligiösen Hoffnungsbilder eines Neuen Menschen sind entkräftet.“39 Sie könnten immer nur der zum Scheitern verurteilte, ja nicht einmal wünschenswerte Versuch sein, die Ambivalenz, Vieldeutigkeit und damit Freiheit des Menschen um ihre „schwachen Seiten“ zu beschneiden, was aber zugleich bedeuten würde, ihm die Herausforderung zum nachhaltigen Streben nach Selbstvervollkommnung und Kulturentwicklung zu nehmen. Der vermeintlich neue Mensch wäre in Wahrheit kein Mensch mehr. Und überlebte doch der Mensch in ihm, fiele der umgehend wieder zurück in die gewohnten Grundmuster sozialen Zusammenlebens, die der Mensch gar nicht ablegen kann.40
Nein. Die Lösung kann allein darin bestehen, dass der Mensch seine eine zwiespältige Grundausstattung, die er biologisch, anthropologisch, psychologisch und soziologisch vorfindet, gründlich reflektiert, versteht, akzeptiert und durch Aufbau, Vereinbarung und Befolgung von Normen, Regeln und Institutionen zu beherrschen, einzuhegen und in ein menschengerechtes Leben zu transformieren versucht, in einen lebenslangen Prozess der Selbstbildung sowie des moralischen wie politischen Strebens. Dies gilt in jedem partikularen Sinnfeld und in jeder situativen Konstellation, indem er dem Eigensinn der Sinn- und Handlungsfelder, in denen er sich in seiner Lebensführung bewegt, genauer nachspürt und deren Handlungsimperative zu verstehen und zu beherzigen strebt.
(43) Würde als Bollwerk wider den Fundamentalismus. Unser Thema bewegt sich in einem Mittelbereich: innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Menschlichem und Allzumenschlichem. Der Bedeutungsraum von Würde überschreitet nicht die Grenze zum Göttlich-Übermenschlichen. Er überschreitet auch nicht die Grenze zum Satanisch-Unmenschlichen. Gestalten unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt wie Jesus oder Hitler sind innerhalb dieses Bedeutungsraums nicht zu fassen.41 Sie verlassen ihn nach oben bzw. nach unten, jedenfalls nach draußen. Bei aller Hochschätzung bzw. Geringschätzung: Ein wohlbegründeter Begriff von Würde ragt ebensowenig hinein bis in Sphären der Unfehlbarkeit, wie seine Gegenbegriffe hineinreichen bis in Sphären des Verbrechens und der Barbarei.
In diese Sphäre des Verbrechens und der Barbarei gehört nur der Nihilismus einer prinzipiellen Negierung und gewaltsamen Aufhebung der Würde von Menschen, wie sie kennzeichnend sind für alle Arten von fundamentalistischen Neuschöpfungsversuchen der menschlichen Welt. Existenzielle Bedeutung also erhält die Würde nur ex negativo, nämlich erst dann – aber auch immer dann! –, wenn sie in Gefahr steht, mit Gewalt verletzt zu werden.
(44) Ringen mit der menschlichen Unvollkommenheit. Innerhalb des Sinnraumes der Würde hingegen erfassen wir ein gelingendes bzw. misslingendes Ringen mit der menschlichen Unvollkommenheit. Dieses Ringen bewegt sich innerhalb des begrenzten Rahmens moralischer und ästhetischer Kategorien. Das Ringen um die Verwirklichung oder Verletzung von Würde dreht sich um Fragen zwischenmenschlicher Wertschätzung und persönlichen Stils, betrifft aber nicht die Sphäre der Verletzung von Strafrechtsnormen und des offenen Rechtsbruchs. Zudem bieten sie weder für fundamentalistische Verheißungen noch Verdammungen irgendeinen begründeten Anlass.
(45) Würde als De-Mut. Die Ausgangsbedingung dafür, dass man überhaupt sinn- und gehaltvoll von Würde (bzw. deren Verletzung) sprechen kann, sind mithin die Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschen. Würde umfasst auf der einen Seite Demut vor der Unaufhebbarkeit dieser Schwäche des Menschen. Sie umfasst auf der anderen Seite aber eben auch einen unbeirrbaren Kampf darum, den destruktiven Folgen dieser Schwäche nicht einfach nachzugeben, sondern ihr alle erreichbaren Formen von kulturellen Errungenschaften abzuringen. Der Mensch kann seine Würde gleichermaßen durch hybriden Hochmut verletzen wie durch widerstandslose Resignation. Würde nimmt das Wort De-Mut in seinen beiden Teilen ernst: Sie unternimmt eine unabschließbare riskante Gratwanderung hindurch zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Hochmut und Mutlosigkeit. Zwar hat die Demut stets „den unappetitlichen Beigeschmack des Kriechens und der Erniedrigung mitgeschleppt“ und scheint prädestiniert als „eine Tugend der Verlierer“; tatsächlich aber trifft dies nur für die Demütigung als Gegenprinzip der Demut zu, wenn also „Demut von außen aufgezwungen wird“42.
(46) Die dritte, die philosophische Erzählung der Menschwerdung. Hier soll jedoch der verbreiteten Abschätzigkeit gegenüber dieser Tugend und auch deren sprachlichem Hintergrund gar nicht weiter nachgegangen werden. Zumal die Demut mit dem Mut etymologisch gar nicht primär, sondern nur sekundär über ihren gemeinsamen Vorfahren, den althochdeutschen „muot“ verbunden ist. Jedenfalls gilt eine solche Haltung gegenüber der Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschen unabhängig davon, ob man der schönen und melancholischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies in der biblischen Genesis (und ihrer noch schöneren Nacherzählung in Milton’s „Paradise Lost“) folgen möchte oder der naturwissenschaftlichen Erzählung von der Evolution nach Darwins „Entstehung der Arten“ und „Abstammung des Menschen“.
Jenseits dieser Dichotomie zwischen Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie also – heute bekanntlich wieder hoch umstritten – spricht viel für eine dritte Erzählung der Menschwerdung: die Vorstellung, dass die Menschwerdung überhaupt erst durch Vertreibung aus dem Paradies möglich wurde. Der Mensch hat das Gute für den Aufbau seiner, einer menschlichen Welt in die natürliche Welt implantiert. Diese Erfindung ist erfolgt zur Gewährleistung des Selbstschutzes von und vor Seinesgleichen, damit aber auch zur Selbstherausforderung durch etwas, das nicht verlässlich von Natur aus gegeben ist: Moral. Überhaupt dadurch erst ist das Dual von Gut und Böse entstanden und der Mensch in die Lage versetzt bzw. gezwungen worden, wählen zu können und sich entscheiden zu müssen. Durch diese Erfindung hat der Mensch sich selbst aus der ungeschiedenen Harmonie des natürlichen Paradieses vertrieben. Und damit auch die Würde und deren Gegenteil gestiftet.
Eine solche dritte Erzählung der Menschwerdung belässt es folglich nicht bei der passiven Rolle des Menschen, welche ihm in der kosmologischen Erzählung der Genesis ebenso wie in der biologischen Erzählung des Darwinismus zugewiesen worden war, sondern spricht ihm in einer Art von philosophischer Erzählung eine aktive Rolle bei der Selbstentdeckung und Selbstschöpfung aus eigenem Wollen zu. Selbstverständlich muss er im Gegenzug auch die volle Verantwortung für „das Böse“, d.h. alle Verletzungen der Humanität selbst übernehmen. Er kann sie also nicht mehr im Sinne der Theodizee abschieben auf einen entsprechenden Willen oder Zorn Gottes und auf das Wirken des Teufels. Dieser Teufel ist dann niemand anders als wir selbst, sofern wir unsere selbstgesetzten Normen, moralischen Imperative und rechtlichen Gesetze verletzen.
Liegt es angesichts solcher Überlegungen schließlich nicht nahe, auch die allzu schlichte Vorstellung, die wir uns üblicherweise vom Paradies machen, etwas genauer zu beschreiben zu versuchen? Erscheint es nicht plausibel, es sich als die kosmische Ordnung nach der Schöpfung aus dem Chaos, also als die natürliche Welt mit ihrer ökologischen Gleichgewichtsordnung vor Einführung der anthropozentrischen Moral vorzustellen, was aber keineswegs gleichbedeutend wäre mit einer konflikt- und gewaltfrei harmonischen Idylle? Paradies und Vertreibung aus ihm, göttlich-vollkommene Schöpfung und menschlich-fehlbare Welt stünden sich dann nicht mehr in jener unüberbrückbar scharfen Konfrontation gegenüber, wie sie in den Bildern von Vertreibung und Sündenfall beschworen wird.
9. Die Würde im theologischen und im juristischen Diskurs
(47) Selbstverständlich hat die Würde-Thematik, wie bereits angesprochen, auch eine theologische Seite. Ihr soll hier noch ein Stück weiter nachgegangen werden. Ihre Schlüsselbedeutung für den interkonfessionellen Streit um die Rechtfertigungslehre wird prägnant in einem Presse-Disput auf den Punkt gebracht. Ein Leserbrief-Autor widerspricht einer Interview-Äußerung, in welcher der evangelisch-katholische Gegensatz folgendermaßen formuliert worden war: „’Die Frage wird gegensätzlich beantwortet, ob das Geschöpf Mensch seinen Wert in dem hat, was es selbst ist und tut – die römisch-katholische Position –, oder darin, dass Gott es für wertvoll hält – die evangelische Position.’ Es sei mir erlaubt festzustellen, dass dieser Satz den Sachverhalt in jeder Hinsicht verfehlt, da er weder die katholische Anthropologie korrekt wiedergibt noch die Intention Martin Luthers trifft. Zum einen ist die Personwürde eines jeden Menschen eine Schöpfungsaussage, die in der Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes ihren Grund hat. Demgegenüber betrifft das Rechtfertigungsgeschehen den sündig gewordenen, aber unverlierbar von Gott mit Würde immer schon begabten Menschen. Zum anderen ist bekannt, dass die konfessionelle Auseinandersetzung um die Rechtfertigungslehre ihren Ursprung in der Biographie Martin Luthers hat. Auf seine Frage: ‚Wie finde ich einen gnädigen Gott?’ fand er für sich Antwort beim Lesen des Römerbriefs: Du kannst und du brauchst dich nicht selbst durch eigene Anstrengung zu einem Gerechten machen. Gottes Gerechtigkeit ist nicht die, die Er von dir verlangt, sondern die, die Er dir ohne jegliches Zutun von deiner Seite schenkt. Gott allein handelt an dir. Allein der Glaube an die Gerechtmachung, an die Rechtfertigung durch Gott allein, bewirkt Heil und inneren Frieden. Dieses ‚Allein’ war es nun, das zum Kernpunkt der Auseinandersetzung wurde. Dass kein Mensch sich das Heil selbst zu verdienen vermag, dass alle Bemühungen des Menschen getragen ist von der sie ermöglichenden Gnade Gottes, dass insofern alles, wirklich restlos alles Gnade und ungeschuldetes Geschenk Gottes ist, war immer schon, auch zur Zeit Martin Luthers, gut katholische Lehre, wiewohl man zugeben muss, dass das Bewusstsein dafür bisweilen durch eine bestimmte religiöse Praxis verdeckt wurde. Kontrovers war und ist also nicht, dass alles Gnade ist, sondern nur, dass es Gott allein ist, der des Menschen Heil wirkt. Und hier geht es nun in der Tat um die Würde des Menschen (Hervorh. S.G.). Die Frage ist nämlich: Bezieht Gott den Menschen mit ein in den Prozess seiner Rechtfertigung, seines Heil- und Heiligwerdens? Ist der Mensch mitbeteiligt, mitwirkend mit der Gnade Gottes, oder ist er nur passives Objekt des Wirkens Gottes, gleichsam wie ein Stein, den Gott zu sich erhebt ohne alle Eigenbeteiligung? Wenn es so wäre, würde dies tatsächlich der Würde des Menschen widersprechen, die darin besteht, frei zu sein, zustimmen oder ablehnen zu können, nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt in Gottes Gnadenhandeln zu sein, ein Mitwirkender mit der Gnade Gottes, wie es Paulus unübertroffen exakt formuliert hat. ‚Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben. Mehr als alle habe ich mich abgemüht – nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir.’ (1 Kor 15,10). Auf diesem ’die Gnade Gottes, aber nicht allein ohne mich, sondern mit mir’ muss eine katholische Rechtfertigungslehre bestehen, wie gesagt, um der Würde des Menschen willen.“43
Zu diesem Disput ist viererlei anzumerken: Zum einen muss man immer aufs Neue staunen über die theologischen Zauberkünste, die auf allen beteiligten Seiten solcher Dispute ein menschliches Wissenkönnen über die Motive und Taten Gottes aus dem Hut zaubern, obwohl die ausschlaggebende Prämisse jeglichen religiösen Glaubens lautet, dass Gott höher ist als alle menschliche Vernunft.44
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